Ein Film über Erinnerung, über eine Frau, über eine Mutter. Anhand von Fotos und anderen Aufzeichnungen begibt sich Jeanine Meerapfel in „Eine Frau“ auf die Suche nach Spuren ihrer Mutter, die nach vielen Stationen schließlich in Buenos Aires eine Heimat fand, wo auch die Regisseurin geboren wurde. Eine verschlungene Suche, die um Fragen der Herkunft, der Migration und der Erinnerung kreist.
Deutschland 2021
Regie & Buch: Jeanine Meerapfel
Dokumentarfilm
Länge: 100 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 1. Dezember
FILMKRITIK:
1943 wurde Jeanine Meerapfel in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires geboren. Wie ihre Mutter in der südlichen Hemisphäre landete, weit weg von ihrer Heimat ist eine lange Geschichte, ist eine der vielen Migrationsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Anhand von vergilbten Fotos, einigen Super8-Aufnahmen, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, zeichnet Jeanine Meerapfel den Lebensweg ihrer Mutter nach, der in einem kleinen Ort in Frankreich begann, über Straßburg, Untergrombach in Deutschland und Amsterdam nach Argentinien führte.
Dort wollte Marie Louise Chatelaine, genannt Malou, glücklich werden. Der Verfolgung durch die Nationalsozialisten war sie, die deutsch-jüdische Migrantin, entkommen, doch bald wurde sie von ihrem Mann Carlos verlassen. Allein mit zwei Kindern stand sie nun da, nicht nur als Fremde in einem fremden Land, sondern auch noch als alleinstehende Frau in einer südamerikanischen Machokultur.
Mit nur 61 Jahren starb Marie Louise Chatelaine schließlich, Jeanine Meerapfel kehrte in den 60er Jahren nach Deutschland zurück, studierte unter anderem bei Alexander Kluge und Edgar Reitz Film, arbeitete zwischenzeitlich als Kritikerin und begann Anfang der 80er Jahre selbst Filme zu realisieren, die oft autobiographisch geprägt waren. „Im Land meiner Eltern“ oder „Malou“ hießen diese frühen Werke, später entstand „Der deutsche Freund“, der von Kindern deutsch-jüdischer Migranten erzählt, die im Buenos Aires der 50er Jahre aufwachsen.
Auch „Eine Frau“ kreist auf mäandernde Weise um diese Themen, stellt Fragen nach der Erinnerung, die nach und nach die Wirklichkeit überschreibt, zeichnet das Leben einer Frau nach, die ein ganz eigenes Leben führte, aber doch auf exemplarische Weise das Schicksal vieler Frauen des 20. Jahrhunderts spiegelt: Migrationsströme, Flucht, Verfolgung, Emanzipation, Antisemitismus. Dass es ausgerechnet Argentinien war, in der die deutsch-jüdische Marie Louise Chatelaine Zuflucht fand ist eine besondere Ironie, war das südamerikanische Land nach dem Zweiten Weltkrieg doch auch beliebter Fluchtort für Nazis, die dank einflussreicher Freunde ihrer gerechten Strafe entkamen.
Ein sehr persönlicher Film ist „Eine Frau“ geworden, eine filmische Reflexion über das eigene Leben der Regisseurin Jeanine Meerapfel, über das ihrer Mutter, über die Erinnerung, die sich ständig verändert und langsam verblasst: „Ich muss so lange erinnern, bis ich vergesse“, sagt Meerapfel an einer Stelle, einer der vielen melancholischen Momente in einem melancholischen Film. Denn auch wenn sie viele Fotos von ihrer Mutter besitzt, wird die Erinnerung an die Realität schwächer, verblasst, so wie alte Fotos verblassen, die sich im Rauschen der Geschichte auflösen.
Michael Meyns