Ema – Sie spielt mit dem Feuer

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Das Leben der jungen Chilenin Ema scheint ein einziger Scherbenhaufen: Ihre Ehe droht zu scheitern, eine Adoption schlug fehl und durch ein schlimmes Ereignis wird ihre Schwester verletzt. Sie begibt sich auf einen ebenso erotischen wie gefährlichen Selbstfindungstrip, der durch schweißtreibende Reggaeton-Beats angetrieben wird. Pablo Larraíns exzessiver, von elektrisierenden Tanzszenen und unerwarteten Gefühlsausbrüchen der Figuren geprägter Film „Ema“ ist herausfordernd. Stellenweise etwas verworren und zu reißerisch geraten, lohnt der Genre-Mix dennoch einen Blick – nicht zuletzt aufgrund der herausragenden Performance der Hauptdarstellerin.

Website: www.studiocanal.de

Chile 2019
Regie: Pablo Larraín
Drehbuch: Guillermo Calderón, Alejandro Moreno
Darsteller: Mariana Di Girolamo, Gael Garcia
Bernal, Santiago Cabrera
Länge: 102 Minuten
Kinostart: 22. Oktober 2020
Verleih: Studiocanal

FILMKRITIK:

Tänzerin Ema (Mariana Di Girolamo) ist mit dem Choreografen Gaston (Gael Garcia Bernal) verheiratet. Vor einiger Zeit haben sie einen Jungen aus Kolumbien, Polo, adoptiert. Doch der Adoptivsohn erwies sich als schwieriger Charakter, was schließlich in einem tragischen Vorfall gipfelte: Polo hat das Gesicht von Ema Schwester verbrannt, weshalb diese nun verletzt im Krankenhaus liegt. Polo soll zurück ins Waisenhaus. Dieser Vorfall sowie die zunehmenden Probleme mit Gaston, die schließlich zur Trennung führen, entfachen in Ema unerwartete Kräfte – befeuert durch ihre neugefundene Liebe zum Reggaeton-Tanz. Ema schmiedet einen Plan, um die Fehler der Vergangenheit wieder gut zu machen.

In seiner chilenischen Heimat ist Pablo Larraín seit den späten 00er-Jahren ein erfolgreicher, einflussreicher Regisseur. International bekannt wurde er 2016 mit dem Biopic „Jackie“. Zeichnete sich „Jackie“ noch durch eine stringente Handlung und formale Klarheit aus, geht Larraín mit „Ema“ einen gänzlich anderen Weg. Sein achter Film entzieht sich einer klaren (Genre-) Einordnung und fordert den Zuschauer auf allen Ebenen heraus. Intellektuell und audiovisuell. Im Kern geht es um eine auseinanderdriftende Kleinfamilie und um den Verlust geliebter Menschen. Menschen, die für Sicherheit im eigenen Leben sorgten und Halt gewährten.
Mariana Di Girolamo als titelgebende Hauptfigur liefert eine beeindruckende, psychisch wie physisch einnehmende Tour-de-Force. Ihr unbekümmerter, kraftvoller Auftritt entführt den Betrachter nicht zuletzt auf metaphorischer Ebene in die Innenwelt einer Frau, die sich allmählich von allen gesellschaftlichen Zwängen und Vorurteilen freikämpft. Ema stürzt sich in Affären, gibt sich (hetero- sowie homosexuellen) Flirts hin, findet zu neuem Selbstbewusstsein und in den rebellischen, anarchischen Reggaeton-Tänzerinnen viele Gleichgesinnte. Und so lässt sich „Ema“ letztlich auch als feministischer Film lesen, der eine souveräne, überlegene Weiblichkeit feiert, in deren Welt Männer regelrecht überflüssig scheinen.

Die Entwicklung einiger Nebenfiguren ist nicht immer plausibel und wirft so manche Fragen auf, etwa in Bezug auf Gaston, der, ohnehin eher dem männlichen Geschlecht zugeneigt, ein undurchsichtiger Charakter bleibt. Obwohl Gael Garcia Bernal als begnadeter Tänzer und Choreograph Gaston eine der besten, da wagemutigsten Szenen auf sich verbuchen kann: Wenn er sich herrlich überzogen darüber echauffiert, wie Ema bloß zu einer von ihm abgrundtief verachteten Musikrichtung („dieses beschissene Reggaeton“) tanzen könne. Und schließlich steigert er sich gar in einen an Klaus Kinski erinnernden, ausufernden cholerischen Wutausbruch.

Nicht alles in „Ema“ ergibt auf den ersten Blick Sinn. Wie einige der fragmentarisch anmutenden Szenen genau miteinander zusammenhängen, erschließt sich nicht wirklich und bleibt bis zum Schluss formelhaft. Auch, weil Larraín umständlich inszeniert und sich in unterschiedlichsten Genres zu verlieren droht (kunstvolles Bewegungskino, Musical, Experimentalfilm, Familien-Drama, Erotik, Thriller).

Andererseits aber ist es kaum möglich, sich den hypnotischen Bildern und in Neonlicht getauchten, energetischen Momenten zu entziehen, die bisweilen an Gaspar Noes irrlichternd-zügellosen Rausch „Climax“ (2018) erinnern. Vor allem die hemmungslosen Tanzszenen ziehen in ihren Bann. Ema und ihre „Gang“ tanzen sich förmlich den Frust und ihren Ärger von der Seele. Und das, an allen erdenklichen Orten, bei Tag und Nacht: in engen Gassen der Stadt, auf dem Sportplatz, auf öffentlichen Plätzen, in der Bahnstation, ja sogar im Freizeitpark.

Björn Schneider