Florida Project

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Der amerikanischen Traum liegt direkt vor ihrer Nase: Um die Ecke von Disney World lebt die kleine Moonee mit ihrer Mutter Halley in einem heruntergekommenen Motel. Halley ist ständig auf der Suche nach Geld, um sich und ihre Tochter durchzubringen, und wenn das legal nicht klappt, dann muss es eben illegal funktionieren.Sean Baker ("Tangerine L.A.") erzählt in heiteren, knallbunten Bildern von Menschen, die keine Chance haben, weil sie nie eine hatten. Er arbeitet dabei mit Laiendarstellern und mit dem wunderbaren Willem Dafoe, der hier wieder mal so richtig zeigen darf, was er kann. Beinahe wie ein Dokumentarfilm gedreht, ist Bakers betörend realistisches Independent-Drama ein ziemlich raffinierter Kommentar zur Lage der USA und dazu noch witzig und berührend. Toll!

Webseite: www.prokino.de

The Florida Project
USA 2017
Regie: Sean Baker
Drehbuch: Sean Baker, Chris Bergoch
Darsteller: Willem Dafoe, Brooklynn Prince, Valeria Cotto, Bria Vinaite
115 Minuten
Verleih: Prokino
Kinostart: 8. Februar 2018

FILMKRITIK:

White Trash ist die Bezeichnung für die arme, weiße Unterschicht vor allem im Süden der USA, die ursprünglich von schwarzen Sklaven verwendet wurde, um Menschen zu benennen, denen es noch schlechter ging als ihnen. Sean Baker siedelt seinen Film – nach dem Erfolg von "Tangerine L.A." – in diesem Milieu an, wieder also eine Geschichte über Minderheiten. Statt der einigermaßen schrillen Transgender-Szene in Hollywood und Los Angeles steht hier das wahre Leben jenseits der Märchenwelt von Disney World in und um Orlando/Florida im Vordergrund, kaum weniger schräg, mit leichter Hand inszeniert und deshalb umso bewegender. Diesmal erzählt Sean Baker aus Sicht eines Kindes: Moonee ist eine echte Straßengöre, so kess wie einfallsreich. Den letzten Sommer, bevor es in die Schule geht, verbringt sie, wie immer, meist unbeaufsichtigt, sie stromert mit ihren Freunden durch die Gegend, bettelt sich Geld fürs Eis zusammen, und ihre legendären Streiche in der Motelanlage rufen häufig den Motelmanager Bobby (Willem Dafoe) auf den Plan. Bobby ist so etwas wie der Fels in der Brandung, nicht nur im Motel, sondern auch in Halleys und Moonees Leben. Tatsächlich ist er auf seine unauffällige, ruhige Art ihr bester Freund, und den haben die beiden verdammt nötig. Denn Halley, beinahe selbst noch ein Kind, kommt eigentlich überhaupt nicht mit dem Leben klar. Sie hat weder einen Beruf noch ein festes Einkommen, ist aber dennoch ihrem Kind eine liebevolle Mutter, soweit es ihr möglich ist. Denn manchmal wirkt sie eher wie die unvernünftige große Schwester. Halley hat viele mehr oder weniger legale Ideen, wie sie an Geld kommen kann. Aber irgendwann geht gar nichts mehr. Alle Geldquellen sind versiegt, mit ihrer Freundin im Motel hat sie sich verkracht, und die Miete ist schon so lange überfällig, dass selbst der gutmütige Bobby ihr nicht mehr helfen kann. Moonee bekommt zunächst nichts davon mit, dass Halley wieder als Callgirl arbeitet. Doch bevor die Polizei und das Jugendamt auftreten, wird noch mal richtig gefeiert.
 
Gut gelaunt und unbefangen lebt nicht nur Moonee in ihrer farbenfrohen, chaotischen Welt. Auch Halley ist alles andere als das klassische Müttermodell. Freundlich gesagt, könnte man sie als unreif bezeichnen. Sie wissen es nicht, aber für beide geht es ums Überleben in einer Welt, die keine Verlierer duldet. Das Konzept des Versagens ist in der US-Gesellschaft nicht vorgesehen. Eine soziale Absicherung für junge Mütter gibt es nicht, nicht einmal Kindergeld oder eine Unterstützung, die der Sozialhilfe oder den Hartz4-Gesetzen entspräche. Wer hier nichts wird, so heißt es, sei selber schuld und habe es nicht besser verdient. Das Paradies liegt gleich nebenan, ist aber unerreichbar. So wie Halley im quietschbunten „Magic Castle“ haust, so geht es vielen anderen, die einen Teil ihrer verbliebenen Würde daraus beziehen, dass sie sich die 38 Dollar pro Woche für ein schäbiges Motelzimmer leisten können. Und das ist eben auch die amerikanische Wirklichkeit – genauso wie das zauberhafte Feuerwerk allabendlich in Disney World.
 
Sean Baker verzichtet auf Erklärungen und Anklagen, sein Sozialdrama ist raffinierter und dadurch umso effizienter. Schon rein visuell ist der Film dank der Bildgestaltung von Alexis Zabe ein echtes Erlebnis: tolle Großaufnahmen von stiller Schönheit oder verblüffendem Witz für Landschaft oder Architektur und gleichzeitig reportagemäßig dicht an den Personen, wenn es um die Menschen geht, oft lebhaft, aber niemals gewollt artifiziell. Dank Sean Baker und seinem inspirierten Kameramann entsteht das Bild einer Welt, die sofort hässlich wird, wenn man an dem hübschen, bunten Putz kratzt, der manchmal nur sehr oberflächlich die Scheußlichkeiten verdeckt, die darunter wohnen. Aber er zeigt auch das Glück im Moment, und vor allem zeigt er die Welt aus der Sicht eines Kindes, genauer gesagt mit dem Blick eines rotzfrechen Balgs: Moonee, gespielt von Brooklynn Prince, die sich wahlweise mit schonungsloser Niedlichkeit oder mit den Umgangsformen eines Gangsta-Rappers in dieser Welt zu behaupten lernt. Vermutlich ist sie schon mit dem ausgestreckten Stinkefinger zur Welt gekommen. Halley, ihre naive, junge Mutter, deren schreckliche Vergangenheit nur in Andeutungen erwähnt wird, spielt die Filmdebütantin Bria Vinaite, eine mit Tattoos bedeckte, neonhaarige, gepiercte Ex-Punk-Rebellin, die es schafft, gleichzeitig Sympathie und Antipathie zu wecken. Eine zornige junge Frau mit der Ausstrahlung eines – wahlweise – bockigen Kindes, einer unschuldigen Nymphe oder einer ausgebufften Stricherin. Das ist alles sehr intensiv gespielt und außergewöhnlich klug in Szene gesetzt, wirkt oft improvisiert und kaum gescriptet, aber wird noch getoppt durch Willem Dafoe, der den Bobby als Manager der in schreiendem Violett getünchten Motelanlage mit dem herrlichen Namen „Magic Castle“ spielt. Inzwischen sichtbar gealtert und angenehm zerknittert gestaltet Willem Dafoe seine Rolle als immer etwas geheimnisvollen Mann mit schafsähnlicher Geduld und größtmöglicher Gelassenheit, gleichzeitig Vaterfigur und Polizist, Sozialarbeiter und Anwalt und offenbar wirklich jemand mit einer Mission. Er ist unauffällig, macht seinen Job – aber wenn es nötig ist, kann er auch durchgreifen. Willem Dafoe schenkt dem im Grunde einsamen Mann viel Substanz, da gibt es kein überflüssiges Wort, kein Getue und Gehabe: Dieser Kerl ist echt gut. Und das gilt für den ganzen Film.
 
Gaby Sikorski