Kraft der Utopie – Leben mit Corbusier in Chandigarh

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Der Grat zwischen Utopie und Dystopie ist schmal, dementsprechend bewegt sich die Bewertung des Architekten Le Corbusier und seiner Bauten ebenfalls zwischen extremen Polen. Gut nachvollziehen lässt sich das in der nordindischen Planstadt Chandigarh, wo Karin Bucher und Thomas Karrer ihren vielschichtigen Dokumentarfilm „Kraft der Utopie – Leben mit Corbusier in Chandigarh“ gedreht haben.

Webseite: https://www.kraftderutopie.ch/

Schweiz 2023
Regie: Karin Bucher & Thomas Karrer
Buch: Karin Bucher
Dokumentarfilm

Länge: 84 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 22. Februar 2024

FILMKRITIK:

Auch den meisten Schweizern war nicht bewusst, dass auf dem zehn Franken-Schein nicht nur ein Porträt des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier abgebildet war, sondern auch die Fassade eines Gebäudes, das sich nicht etwa in Europa befand, sondern in Chandigarh. Dort, im äußersten Norden Indiens, hatte der legendäre Architekt Anfang der 50er Jahre die Möglichkeit, seine städtebaulichen Visionen nicht nur an einzelnen Gebäuden oder Stadtvierteln zu erproben, sondern gleich an einer ganzen Stadt.

Denn die Unabhängigkeit des indischen Subkontinents hatte zur Entstehung mehrerer Staaten geführt, nicht nur Indien, sondern auch Pakistan und Bangladesch. Und hier im Norden, in der Provinz Punjab, befand sich die alte Hauptstadt nun auf dem Gebiet von Pakistan. Eine neue Hauptstadt musste also her, ein Verwaltungszentrum, das aus dem Boden gestampft wurde.

Und diese Aufgabe übernahm Le Corbusier, der eine Stadt für 500.000 Menschen entwarf, wie ein Blick auf google maps sehr schön zeigt mit geometrisch angeordneten Alleen, aber auch einem großen, künstlichen See und einer spektakulären Anordnung von Regierungsgebäuden, dem Chandigarh Capitol Complex. Dieser gehört inzwischen zusammen mit etlichen anderen Bauten Le Corbusiers zum Weltkulturerbe – und ist für die Bewohner der Stadt nur schwer zugänglich. Nach einem Attentatsversuch wurde das Gebiet gesichert und ist nur während Führungen zu besuchen, was den Intentionen Le Corbusiers vollkommen widerspricht.

Denn wie die Schweizer Filmemacher Karin Bucher und Thomas Karrer in ihrem sehenswerten Dokumentarfilm „Kraft der Utopie – Leben mit Corbusier in Chandigarh“ zeigen, ging es Le Corbusier beim Bau der Stadt nicht einfach nur um eine pragmatische Bereitstellung von Wohn- und Arbeitsplätzen, sondern um eine Architektur, die für Zufriedenheit und ein gesellschaftliches Miteinander sorgt.

Erstaunlich gut erhalten sind die eindrucksvollen Gebäude der Stadt auch heute noch, besonders die fast schon mondän anmutenden Villen in der Innenstadt, aber auch die brutalistisch wirkenden Regierungsgebäude. Das liegt nicht zuletzt am sogenannten Edikt von  Chandigarh mit dem Le Corbusier penibel vorschrieb, wie seine Entwürfe überdauern sollten, welche baulichen Veränderungen vorgenommen werden durften: Möglichst gar keine.

Das führt zwar einerseits zu einem eindrucksvollen Ensemble, sorgt andererseits aber auch zur Musealisierung einer Stadt, in der allerdings auch Menschen leben. Inzwischen sogar viel mehr als die ursprünglich intendierten 500.000, was zu Veränderungen führte, die weder bedacht noch intendiert waren. Außerhalb des ursprünglichen Bebauungsplans haben sich Slums gebildet, in denen vor allem jene Menschen hausen, die es angesichts des enormen Wachstums der indischen Bevölkerung vom Land in die Städte zieht. Aus Le Corbusiers utopisch anmutender Stadt ist so zumindest in Teilen längst eine Dystopie geworden, die durch die strengen baulichen Vorgaben nicht flexibel genug auf Veränderungen reagieren kann. Wie durch ein Brennglas zeigen sich hier Probleme, die auch in vielen westlichen Städten zu beobachten sind, Städte, die versuchen sich zu verändern, zu wachsen und dennoch lebenswert zu bleiben. Ob durch oder im Gegensatz zu utopischen Visionen a là Le Corbusier ist die spannende Frage.

 

Michael Meyns