Lars Eidinger – Sein oder Nichtsein

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Begnadeter Schauspieler oder eitle Nervensäge? An Lars Eidinger scheiden sich die Geister, von den deutschen Bühnen und dem zunehmend auch internationalen Kino ist der Berliner jedoch nicht mehr wegzudenken, konsequent also, dass Reiner Holzemer sich in seinem Dokumentarfilm „Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein“ um eine Annäherung an den Schauspieler bemüht, die zu einem bemerkenswert sensiblen, hellsichtigen Porträtfilm wird.

Deutschland 2022
Regie/ Buch/ Kamera: Reiner Holzemer
Dokumentarfilm

Länge: 92 Minuten
Verleih: Filmwelt
Kinostart: 23. März 2023

FILMKRITIK:

Ein wenig scheint sich Lars Eidinger in den letzten drei Jahren zurückgezogen zu haben, sicher wegen Corona, vielleicht aber auch als Reaktion auf den Gegenwind, der ihm Anfang 2020 entgegenschlug, als er eine Luxustasche im Design einer ALDI-Tüte designte und sich damit vor einem Obdachlosenlager fotografieren ließ. Zum ersten Mal schlug dem Schauspieler nicht nur Kritik entgegen, sondern auch Häme und aggressive Ablehnung, was für einen fraglos eitlen, fraglos aber auch sensiblen Menschen wie Eidinger eine ungewohnte Erfahrung gewesen sein muss.

Kurz danach nahm der Dokumentarfilmregisseur Reiner Holzemer Kontakt zu Eidinger auf, man verstand sich gut genug, um das Wagnis eines Porträtfilms einzugehen, ein Wagnis deswegen, weil Eidinger sich – abgesehen von seinem Privatleben, das komplett ausgespart bleibt – in dem kaum 90 Minuten langen „Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein“ erstaunlich offen, ungeschminkt und verletzlich zeigt.

Als roter Faden der Dokumentation dienen Holzemer Proben und Premiere des „Jedermann“ in dessen Hauptrolle Eidinger 2021 in Salzburg zu sehen war. Eine sehr gute dramaturgische Entscheidung, denn dadurch verzichtet Holzemer auf ein Abhaken der Lebens- und Arbeitsstation Eidingers: Nur in zwei kurzen Passagen geht es in die Vergangenheit. Zum einen kommt sein Schauspiellehrer an der Ernst Busch Schauspielschule zu Wort, der ironischerweise berichtet, dass er Eidinger als eher zurückhaltenden Menschen kennengelernt hat, zum anderen sehen wir Eidinger wie er sich selbst bei einer Aufführung von Maren Ades „Alle Anderen“ zusieht, sein erster großer Kinofilm, den Eidinger auch als seinen immer noch wichtigsten Film bezeichnet.

Weite Teile der Dokumentation zeigen jedoch den Probenprozess in Salzburg, das Erarbeiten der Figur, eingerahmt von Aussagen Eidingers, der beschreibt, wie wichtig etwa die Wahl der Schuhe für ihn ist, wie frei er sich auf der Bühne fühlt, wie schwer es ihm im Alltag dagegen fallen würde, aus sich herauszugehen. Nach und nach entsteht das Bild eines sensiblen Künstlers, der oft nicht versteht, warum er Missverstanden wird, warum ihm – etwa angesichts der ALDI-Tüte – ein solcher Hass entgegenschlägt.

Natürlich ist das Bild eines sensiblen, missverstandenen Künstlers auch ein Klischee, vielleicht sogar eine Rolle, in der es sich jemand wie Eidinger auch gemütlich einrichten könnte. Aussagen von Kollegen bestätigen jedoch diesen Eindruck, besonders wenn internationale Schauspielgrößen wie Isabelle Huppert und Juliette Binoche sich nicht nur oberflächlich lobend über den Kollegen äußern, sondern mit echter Faszination von Eidingers außerordentlicher Bühnenpräsenz schwärmen.

Wenn man dann Momente bei den Jedermann-Proben beobachten kann, bei denen Eidinger während einer besonders emotionalen Passage auf einmal beginnt, den in seinen Augen etwas unaufmerksamen Regisseur anzubrüllen oder ihm bei der Besprechung einer Szene die Tränen kommen, begreift man endgültig, wie sehr dieser Mann für seinen Beruf, seine Leidenschaft brennt. Eidinger mag bisweilen anecken, manchmal nerven, aber jemand der mit solcher Emphase, mit ganzem physischem und psychischem Einsatz auf der Bühne oder vor der Kamera steht muss man zumindest respektieren. Das herausgearbeitet zu haben macht Reiner Holzemers „Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein“ zu mehr als einer hagiographischen Dokumentation: Ein sensibles, hellsichtiges Porträt über einen geborenen Schauspieler.

 

Michael Meyns