Lipstick on the Glass

Ein polnischer New Wave Song von 1984 gibt diesem experimentellen Film von Kuba Czekaj den Titel und die Attitüde: Purer Exzess, überbordende Bildgewitter, deren Verweise vom italienischen Giallo bis zu David Lynch und Gaspar Noe reichen. Das dabei die Geschichte ein wenig kurz kommt lässt sich meist verschmerzen, auch wenn der Bilderrausch bisweilen mehr anstrengt als begeistert

Lipstick on the Glass
Polen/ Deutschland 2023
Regie & Buch: Kuba Czekai
Darsteller: Agnieszka Podsiadlik, Lena Lauzemis, Stipe Erceg, Bobbi Salvör Menuez, Laura Benson, Lili Lublinski

Länge: 117 Minuten
Verleih: w-Film
Kinostart: 25. Juli 2024

FILMKRITIK:

Eine Frau im Kampf gegen das Patriarchat. So könnte man – ganz kurz – das beschreiben, was in Kuba Czekajs „Lipstick on the Glass“ im weitesten Sinne als Handlung durchgeht. Allerdings wirklich im weitesten Sinn, denn mehr als für eine kohärente Geschichte, interessiert sich der polnische Regisseur für Bilder, Atmosphäre, Stimmungen.
Die Frau, die in einer allzu konventionellen Ehe gefangen ist, heißt Emeryka (Agnieszka Podsiadlik), ein ebenso sprechender Name wie der ihres Mannes Bogey (Stipe Erceg), ein Macho, wie er im Buche steht, der auch noch groß „Testosteron“ auf seinen gestählten Bauchmuskeln tätowiert hat. Doch nicht nur Bogey unterdrückt Emeryka, auch die kleine Tochter (Lili Lublinski) schränkt ihre Mutter ein, hindert sie an der Entfaltung.
Das ändert sich erst, als ein Wesen namens The Something (Lena Lauzemis) die Welt des Films betritt, eine androgyne, non-binäre Person, die Emeryka mit anderen Möglichkeiten des Zusammenseins konfrontiert. In eine Art Kult gerät Emeryka, der nur Frauen als Mitglied hat, am Ende aber auch nur eine andere Form der Kontrolle und Unterdrückung darstellt.
Was „Lipstick on the Glass“ an Handlung fehlt, versucht Regisseur Kuba Czekaj durch überbordenden Stil wettzumachen. Zahllose Bildformate verwendet er, ein quadratisches Format wechselt nahtlos zum extremen Breitwand und allem was dazwischen liegt. Farbgesättigt sind die Bilder, besonders grelles rot taucht auf Lippen und im Blut auf, die Einflüsse des italienischen Horror-Genres Giallo sind mehr als deutlich zu spüren: Überblendungen, fließende Bildverläufe, assoziative Montagen, psychedelische Bildcollagen und eine entsprechende Musik sorgen in den besten Momenten für einen soghaften Bild- und Tonrausch.
Ganz lässt sich aber nicht übertünchen, dass „Lipstick on the Glass“ sich oft allzu sehr auf überbordende, bisweilen auch bemüht schockierende Bilder versteift, denen man ein Tick mehr Kohärenz gewünscht hätte. Wie aneinandergereihte Videoclips mutet das Geschehen oft an, bewegt sich zwischen eindringlichen, beeindruckenden Bildern und allzu wirren Momenten.
Etwas ermüdend wirkt das Ganze auf Dauer, zu sehr von seinem expressiven Stil begeistert, als durch nachvollziehbare Figuren geprägt. Anders als etwa der ähnlich experimentelle „Piaffe“, der ebenfalls eine Art Zwitterwesen in den Mittelpunkt stellte, aber bei allen visuellen und narrativen Volten doch schlüssig blieb, verliert sich Kuba Czekai immer wieder im reinen Stilwillen. Das ist besonders Schade, als die Chemie zwischen den Hauptdarsteller groß ist, die einzelnen Bildeinfälle originell, aber zu einem großen Ganzen formen sich die einzelnen Elemente nur sehr bedingt.

Michael Meyns