Was wie ein Krimi beginnt, erweist sich als ein genau gezeichnetes Drama von fünf Menschen, deren Schicksal sich mehr und mehr verknüpft im Rhythmus des argentinischen Tango. Und was wie eine Dreiecksgeschichte beginnt, endet als durchgeknalltes Märchen. Dabei bietet das Drehbuch immer wieder überraschende Wendungen, um die Geheimnisse hinter den Figuren Stück für Stück zu entblättern. „Tango Libre“ ist eine berührende Geschichte von der Liebe und dem Mut, für sie die eigenen Grenzen zu überwinden. Gleichzeitig zeichnet der Film ein faszinierendes Porträt von Männlichkeit, das alle gängigen Klischees spielend bzw. tanzend auf den Kopf stellt. Ein toller Film, kunstvoll und sinnlich inszeniert. Wie schon bei „Eine pornographische Beziehung“ (2000) gelingt es Regisseur Frédéric Fonteyne, ein wenig neben der Spur konventioneller Draufsicht eine sehr glaubwürdige Geschichte von Menschen zu erzählen.
Webseite: www.tangolibre-derfilm.de
Frankreich, Belgien, Luxemburg
Regie: Frédéric Fonteyne
Drehbuch: Anne Paulicevich
Darsteller: Anne Paulicevich, François Damiens, Sergi López, Jan Hammenecker
Verleih: Movienet Film
Start: 13. Juni 2013
Dauer: 105 Min
PRESSESTIMMEN:
"Vielschichtige Mischung aus Tanz- und Gefängnisfilm, die geschickt mehrere Motive und Erzählfäden zu einer märchenhaften Utopie verknüpft und den Tango als Ausdruck von körperlicher Nähe und leidenschaftlichem Verlangen beschreibt. Alle Charaktere werden dabei präzis über Blicke und Gesten umschrieben. - Sehenswert."
film-dienst
"Kauzige Tragikomödie mit charmant-versponnenen Einfällen zum Schmunzeln und Staunen."
CINEMA
FILMKRITIK:
Geldscheine fliegen durch die Luft, es riecht nach Rauch. Brennt das Kino? Natürlich nicht, aber der Realismus der Szene, verstärkt durch die Langsamkeit der Zeitlupe, zieht einen ganz nah an das Geschehen, einen offenbar missglückten Überfall auf einen Geldtransport. Einer schießt, einer liegt am Boden, einer rennt weg. Dazwischen Blicke, Auge in Auge. Einer stirbt. Schnitt.
Was wie ein Krimi oder Gangsterfilm beginnt, erweist sich schon in der nächsten Einstellung als ein äußerst genau gezeichnetes Drama von fünf Menschen, deren Schicksal sich immer stärker miteinander verknüpft, angeheizt von der erotischen Strahlkraft des argentinischen Tango, bei dem es um mehr geht als um Sex. Dieser Tanz provoziert die Seele, sich zu öffnen, er ist Wut und Zärtlichkeit, hitzige Nähe und Distanz, Schönheit und Kampf, das ganze Leben eben.
Also ein Tanzfilm? Auch hier wird das Klischee widerlegt. Wir sehen Menschen, die sich vorsichtig tastend berühren, die gemeinsame Schritte versuchen, die sich ansehen. Oft haben die Männer und die Frau wenig Sprache zur Verfügung, Konversation ist nicht ihre Stärke und wohl auch untauglich, um das, was sie fühlen, auszudrücken. Beim Tango sprechen die Körper und die Blicke.
JC (François Damiens) ist Gefängniswärter, er lebt allein mit einem Goldfisch in einer düsteren Wohnung, einziger Lichtblick in seinem exakt geregelten Leben ist ein Tangokurs, den er wöchentlich besucht. Dort trifft er auf Alice, die allein mit ihrem 15 Jährigen Sohn Antoine (Zacherie Chasseriaud) lebt, ihr Mann Fernand (Sergi López) sitzt im Gefängnis, ebenso dessen Freund Dominic (Jan Hammenecker), der auch ihr Freund ist. Sie waren so etwas wie eine Familie, jetzt treffen sie nur an den spärlichen Besuchstagen im Gefängnis aufeinander. Zentrum der Konstellation ist Alice (ganz faszinierend und subtil gespielt von Anne Paulicevich), die mit der Situation selbstbewußt umzugehen versteht. Doch hinter ihrer Stärke ist ihre Sehnsucht nach Nähe und Unterstützung fühlbar, nach Liebe, nach Sex. Das ist bei den Männern nicht anders, nur dass sie in engen Mauern festsitzen, und das betrifft den, der sie bewacht, ebenso wie die beiden Gefangenen.
Der Schnittpunkt dieser Menschen ist der Tango. Langsam, aber zwingend entwickelt der Film seine Geschichte und überrascht immer wieder mit unerwarteten Wendungen und Bildern, in denen sich die Figuren in ihrer Vielschichtigkeit entfalten können. Ganz sorgfältig sind hier Sujets und Szenenbilder zusammengesetzt, verbinden unkonventionelle Schnitte die korrespondierenden Einsamkeiten, und lassen doch jede Figur bei sich selbst. Schon allein das Drehbuch, das die Darstellerin der Alice geschrieben hat, verdient einen Preis. Aber es kommt noch besser. Die ungewöhnliche, aber immer glaubwürdige Story ist auch ein schillerndes und berührendes Porträt über Männer, ein vielschichtiger und intelligenter Beitrag zum Thema Männlichkeit fernab jeglicher Klischees, gerade weil er diese ernst nimmt.
Um seinem scheinbaren oder tatsächlichen Nebenbuhler Paroli zu bieten, bittet Fernand den einzigen Argentinier im Knast (Mariano „Chicho“ Frumboli, im wirklichen Leben einer der besten modernen argentinischen Tangotänzer), ihn Tango zu lehren. Was das zur Folge hat ist ein Kinoereignis, das Gänsehaut verursacht. Was allein diese Szenen über männlichen Stolz, Sehnsucht, Energie und Sinnlichkeit erzählen, hat man so noch nicht gesehen.
Überhaupt spielt ein großer Teil des Films im Gefängnis, wo die eingesperrten Energien dieser Männer, ihre verletzte Würde, ihre Sehnsucht nach Sex, ihre Wut und ihre Trauer aufeinanderprallen. Mancher hat noch 20 Jahre vor sich, die Strafe für einen Mord, ein anderer bekommt Besuch von Frau und Sohn und hat wohl noch eine Zukunft draußen. Aber egal, wessen sie sich schuldig gemacht haben, der Film zeigt sie als Menschen, die lebendig sind und leben wollen. Er vermeidet eine moralische Bewertung seiner Figuren, auch wenn die Eröffnungsszene von Schuld erzählt. Gerade im Kontrast dazu entfaltet „Tango Libre“ eine Wahrheit, die ganz aus der Sinnlichkeit und Lebendigkeit seiner Protagonisten gespeist ist.
Ein toller Film, ein ungewöhnliches Drehbuch, unkonventionell geschnitten, kunstvoll und sinnlich inszeniert und wunderbar gespielt. Und den möchte ich sehen, der nicht am Schluss für die fünf Helden die Daumen drückt, seine eigenen moralischen Grundsätze damit möglicherweise in Frage stellend. Mehr wird hier nicht verraten. Hingehen und anschauen!
Caren Pfeil
Jean-Christophe, kurz „JC“ genannt, ist ein Einzelgänger, ein verschlossener Typ, der mit niemandem lebt als mit seinem Goldfisch. Von Beruf ist er Gefängniswärter. Diesen Job macht er gut, denn er ist ein ausgezeichneter Beobachter.
Im Gefängnis hat er vor allem Fernand und Dominic zu überwachen. Und die sind beide mit Alice verbandelt, Fernand als deren Ehemann und Dominic als ihr Ex.
Alice lebt mit ihrem Buben, dem Antonio. Aber wer von den beiden Gefangenen ist der Vater?
Alice tanzt gerne Tango. Wöchentlich besucht sie einen Tanzkurs. JC findet während einer Gefangenensprechstunde Gefallen an Alice, die nicht besonders schön ist, aber etwas Sexyhaftes ausstrahlt. Er versucht sich ihr zu nähern, sie aber reagiert nicht, lange nicht.
Das Gefängnisleben geht so dahin. Für Dominic wird es wahrscheinlich noch sehr lange dauern, denn er hat einen Menschen getötet. Unterbrochen wird dieses Gefängnisleben nur – vom Tango. Denn es hat sich herumgesprochen, dass Fernand, um Alice zu gefallen, Tangotanzen lernt; glücklicherweise gibt es unter den Häftlingen einen Argentinier, einen Tango-Fachmann also.
Das ganze Gefängnis wird schließlich vom Tango-Rummel erfasst – lustige Szenen kommen da zustande.
Die Rivalität zwischen JC, Fernand und Dominic um Alice geht weiter, und da wird es denn auch hoch emotionsgeladen und dramatisch.
Dann besinnt sich JC auf etwas, das keiner erwarten konnte.
Lange Zeit fühlt sich der Film wie ein ernsthaftes Drama an. Gegen Schluss zu wird es dann allerdings immer unrealistischer. Trotzdem: Als Anschauungsmaterial für gefangen sein, für einsam sein, für in der Sehnsucht und der Liebe erfolglos sein, für eifersüchtig sein, für hoffnungslos sein, für sexy sein taugt es ganz gut.
Vor allem wenn trotz der gegen Ende etwas holprigen Handlung und Dramaturgie die Darsteller so auf der Höhe sind wie François Damiens als JC, Sergi Lopez als Fernand, Jan Hammenecker als Dominic sowie Anne Paulicevich als begehrenswerte Alice. Sie war es auch, die (wohl ein wenig für sich und ihre Rolle) das Originaldrehbuch verfasst hat.
Thomas Engel