Tár

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Einer der besten Filme des Jahres. Anders kann man „Tár“ nicht beschreiben, erst der dritte Film des ehemaligen Schauspielers Todd Field, der mit einer spektakulären Cate Blanchett in der Hauptroller eine #metoo-Geschichte erzählt, allerdings eine umgedrehte: Eine Frau ist es, die sich nimmt was sie will, was sie glaubt, das ihr zusteht, und in einen Fluss aus echten und falschen Anschuldigungen gerät.

USA 2022
Regie & Buch: Todd Field
Darsteller: Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie Kauer, Mark Strong, Julian Glover, Allan Corduner

Länge: 158 Minuten
Verleih: Universal
Kinostart: 2. März 2023

FILMKRITIK:

Bei einer Podiumsdiskussion lernen wir Lydia Tár (Cate Blanchett) kennen. Vom bekannten Journalisten Adam Gopnik von Magazin The New Yorker wird sie interviewt, aber nicht, bevor Gopnik minutenlang ihre Erfolge aufzählt: Dirigentin der Boston Symphoniker war sie ebenso wie der New York Philharmoniker, EGOT Gewinnerin ist sie, hat als einen Emmy, einen Grammy, einen Oscar und einen Tony gewonnen, war Leonard Bernstein Protegé und dirigiert nun seit Jahren die Berliner Philharmoniker.

Ein Weltstar also und so verhält sich Lydia auch: Charmant agiert sie zwar, aber auch mit unverhohlener Arroganz, wenn sie etwa dem Mäzen und Möchtegerndirigent Elliot Kaplan (Mark Strong) ein paar Tipps gibt oder ihre Assistentin  Francesca (Noémie Merlant) auf Trab  hält.

In Berlin (wo weite Teile des Films gedreht wurden) lebt Lydia zusammen mit Sharon (Nina Hoss) der ersten Violinie bei den Philharmonikern und ihrer Tochter Petra (Mila Bogojevic). Ein perfektes Leben so scheint es, bald steht die Aufnahme von Mahlers 5. Symphonie an, ein langgehegter Traum von Lydia, doch dunkle Wolken ziehen auf.

In den sozialen Medien bahnen sich Vorwürfe den Weg an die Oberfläche, eine junge Musikerin, mit der sie eine Affäre hatte, hat sich das Leben genommen. Online, aber auch in ihrer Funktionen als Dozentin wird Lydias Verhalten zunehmend kritisch betrachtet, vor allem von jüngeren Menschen, die mit anderen Wertmaßstäben aufgewachsen sind. Doch von Kritik lässt sich eine Lydia Tár nicht irritieren, im Gegenteil: Als die junge russische Cellistin Olga (Sophie Kauer) vorspielt und engagiert wird, scheint Lydia ein neues Objekt der Begierde gefunden zu haben – oder ein neues Opfer.

Schon Todd Fields erste beiden Filme “In the Bedroom” und “Little Children” zeigten ein bemerkenswertes Talent, das danach viel zu lange Brach lag. 16 Jahre dauerte es, bis Field seinen dritten Film realisieren konnte, doch das Warten hat sich gelohnt, zumal er in Cate Blanchett eine kongeniale Mitstreiterin gefunden hat.

Praktisch in jeder Szene des zweieinhalb Stunden langen Film ist Blanchett zu sehen, oft in minutenlang ungeschnittenen Einstellungen, in Bildern, die zunehmend ins geisterhafte abdriften. Irritierende Töne scheint Lydia zu hören, selbst beim Joggen im eigentlich menschenleeren Wald, doch sind sie real? In den Schwärzen des Bildes, in den tiefen Ecken von Lydias von Beton geprägter Wohnung, sind Schatten zu entdecken, schemenhafte Figuren, die wie Geister aus ihrer Vergangenheit wirken.

Ob „Tár“ sich zunehmend zu einer Geistergeschichte entwickelt, vielleicht ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch im Kopf seiner Protagonistin spielt: Viele Lesarten bietet Field an, der sich dezidiert einem Urteil, vor allem einem moralischen entzieht. Ob Lydia Tár eine Täterin ist, ob ihr Verhalten in den Kreisen, in denen sie sich bewegt vollkommen normal ist, ob ihre jungen Studentin überreagieren und sich mit ihrer moralischen Mentalität dem Genuss der Musik von Komponisten versagen, die vielleicht menschlich problematisch, dafür künstlerisch spektakulär waren: Der Zuschauer selbst muss sich ein Urteil über eine Frau machen, die so widersprüchlich und komplex ist, wie Menschen nun einmal sind. Ein schnelles Urteil zu fällen ist gerade in einer vom rasanten Nachrichtenfluss der sozialen Medien geprägten Welt einfach, viel zu einfach. Doch innehalten fällt schwer, dass muss auch Lydia Tár in Todd Fields brillantem Film am eigenen Leib spüren.

 

Michael Meyns