Yazi Tura – Kopf oder Zahl

Türkei/Griechenland 2004, Drama, 35mm 110 Min.
Buch und Regie: Ugur Yücel
Kamera: Roy Kurtluyan, Baris Ozbicer, Emre Tanyildiz
Schnitt: Sigurbjorg Jonsdottir, Valdís Óskarsdóttir
Ton: Boris Trayanow
Musik : Erkan Ogur
Darsteller : Kenan Imirzalioglu, Olgun Simsek, Bahri Beyat, Engin Günaydin, Teoman Kumbaracibasi
Verleih : sanartfilm
Kinostart : 24.11.2005

Ugur Yücels Debütfilm „Yazi Tura – Kopf oder Zahl“ ist ein Kriegsheimkehrerfilm, in dem sich das Portrait der heutigen Türkei verdichtet. Den Handlungsrahmen bildet weniger ein Land, von dem man schlechthin annimmt, dass es eine geschlossene Einheit bildet, sondern eine Gesellschaft, die aufgrund von Binnenmigration, Erdbebenkatastrophen, wirtschaftlichen Krisen und um sich greifender Gesetzlosigkeit unversöhnlich gespalten ist.

Von der ersten Einstellung an nimmt sich der Regisseur Ugur Yücel die Zeit, die es nun einmal braucht, um in den Rhythmus der gebrochenen und traumatisierten Leben zu kommen, die „Kopf oder Zahl“ in den Figuren zweier Kriegsheimkehrer portraitiert. Der eine, der „Krüppel“ Ridvan, von der Verlobten verlassen und von den Dorfbewohnern gemieden, begeht am Ende Selbstmord. Seinem Kameraden Cevher ist die Brutalität des Krieges, der seit 15 Jahren in den kurdischen Provinzen des Landes tobt, in Fleisch und Blut übergegangen, und er wird zum Mörder. Während der eine sich in der Großstadt ein neues Leben aufbauen und den Krieg vergessen  will, aber dann doch von doch von der Gewalt des Krieges eingeholt und zum Handlanger der Mafia wird, kehrt sein beinamputierter Kamerad in den Schoß eines hinterwäldlerischen Dorfes zu seiner Mutter zurück. Doch weder das winterliche Idyll noch die Hektik der türkischen Großstadt Istanbul können den Kriegsheimkehrern eine Heimat bieten. Und so ist „Kopf oder Zahl“ dann doch weniger die Darstellung eines Krieges, dessen Fronten zwischen Freund und Feind verlaufen, sondern eines Krieges, der sich innerhalb der türkischen Gesellschaft selbst abspielt: der Zerfall der Familien und der Dorfgemeinschaft, die alltägliche Kriminalität, die unüberbrückbare Distanz zwischen moderner Großstadt und der ländlichen Provinz, all das sind Themen, die Ugur Yücel darzustellen versucht. Am eindrucksvollsten stellt sich das Sujet der metaphorischen und körperlichen Selbstzerstörung in einer Szene dar, die sich regelmäßig in Superzeitlupe wiederholt: Der uniformierte Ridvan wirft besinnungslos vor seelischem Schmerz die Waffen von sich, rennt in ein Minenfeld, wo eine Explosion ihn zum Krüppel macht. Später erfahren wir, dass er zuvor eine kurdische Widerstandskämpferin erschossen hat. In der Toten hatte er seine erste Liebe wieder erkannt.

Melancholie und Aussichtslosigkeit der Helden, die keine sind, mögen den Rhythmus von „Kopf oder Zahl“ bestimmen, doch der Film selbst dreht sich nicht im Kreise. Er hat in der Breite seiner Themen etwas Episches, denn Ugur Yücel will nichts weniger als ein Panorama der türkischen Gesellschaft auf die Leinwand bringen, wo der Krieg und seine zerstörerischen Folgen für die Menschen, das Erdbeben, bei dem über 50 000 Menschen ihr Leben verloren haben, und das Verhältnis zwischen Türken und den griechischen Nachbarn nicht fehlen darf. 110 Minuten sind zu wenig, um all diese komplexen Themen in einer kohärenten Handlung unterzubringen, deshalb haftet „Kopf oder Zahl“ etwas Fragmentarisches an. Ästhetisch äußert sich dies auch in ganz unterschiedlichen Erzählweisen: Der allmähliche Zerfall des beinamputierten Veteranen wird in langsamen, quälend distanzlosen Einstellungen gefilmt, so etwa wenn die Kamera den betrunkenen und im Schnee krabbelnden Ridvan verfolgt, der dort seine verlorene Prothese sucht. Die Szenen, in denen es um den Kriegsheimkehrer Cevher geht, der den Lärm der Großstadt oft nicht von der ihn überfallenden Erinnerung an den Schlachtenlärm trennen kann, sind mit schnellen Schnitten, einer wackligen Handkamera und zahlreichen Überblendungen gedreht. So ist Yücels Film ästhetisch ein Beispiel für einen neuen „urbanen“ Stil im türkischen Kino.

Ralph Winkle