Locarno 2019

Locarno 2019

Ein Abschlussbericht von Günter H. Jekubzik

Auf der Suche

Das erste Festival der neuen Locarno-Leiterin Lili Hinstin zeigte Vielfalt für Entdecker

Am Samstag sind auf der Piazza Grande im Südschweizer Locarno die Preise des 72. Filmfestival von Locarno (7.-17.8.) verliehen worden. Den Goldenen Leoparden erhielt wie unter Fachleuten erwartet „Vitalina Varela“ vom Portugiesen Pedro Costa. Eine lebendige Vielfalt an Stilen, Regionen und Themen kennzeichnet diesen neuerlichen Re-Start des sich an vielen Stellen verjüngenden Events.

Das Flugzeug ist kurz vor dem Abheben und durch die Notfall-Kennung für Entführungen „7500“ im Titel weiß man, dass es spannend wird. Genauso ging es dem 72. Filmfestival von Locarno (7.-17.8.) lange vor dem eigentlichen „Abheben“: Es herrschten Spannung und Rätselraten, wie das kleine unter den großen europäischen Festivals sich mit der neuen Führung der Französin Lili Hinstin zeigen würde. Zur Erinnerung: Der bisherige Leiter Carlo Chatrian ist nach sechs Jahren in der Süd-Schweiz von der Berlinale abgeworben worden, wo er nächsten Februar seinen ersten Auftritt abliefern wird. Hinstin leitete bisher kleinere Festival zum Dokumentarfilm (Cinéma du Réel) in Paris und für den Nachwuchs (Entrevues Belfort).

Neben dekorativen Veränderungen in der Festival-Architektur interessierten die von Lili Hinstin programmierten Filme. Vor allem das Aushängeschild Locarnos, das Open Air-Kino für bis zu 8000 Zuschauer auf der Piazza Grande ist im Fokus. Hinstin deutete schon vor Wochen an, dort weniger Hollywood zu zeigen. Auch lokale Schweizer Produktionen sind bis auf eine Ausnahme nicht auf der Piazza programmiert. Die gerade verkündete Schweizer Oscar-Einreichung „Wolkenbruch“ fand übrigens prompt in Locarno statt – nicht als Film, aber meteorologisch auf der Piazza während Taratinos „Once upon a time … in Hollywood“.

Wettbewerb

Arbeitssuche in Brasilien, Tänzerinnen in Paris, Folter in Nordafrika, eine seltsame Insel in Südkorea, ein singender Aussteiger in Portugal und Helikopter-Eltern in Deutschland – es ist üblich, dass bei 17 Filmen in einem Wettbewerb eine kleine Weltreise zusammenkommt. Doch wenn die zwei, drei besonderen Filme ausbleiben, über die alle reden, bekommt diese Vielfalt viel Raum. Es bleibt für Locarno, wie für alle Festivals jenseits von Cannes und Venedig schwierig, ein durchgehend interessantes, ansprechendes und aussagekräftiges Wettbewerbs-Programm zusammen zu bekommen.

Herausragend war „The Last Black Man in San Francisco“ und passend zur Retrospektive „Black Light“, die derart eilig vorgezogen wurde, dass es keinen Katalog gibt. Zwei gute Freunde versuchen das enteignete Haus des Großvaters des einen wieder an sich zu bringen. Allerdings auf sehr naive und komische Weise. Weil noch ein weißes Pärchen darin wohnt, kommen sie von weit her wöchentlich vorbei, um Fenster zu streichen, den Garten aufzuräumen und sonst nach dem Rechten zu sehen. Die Geschichte um Gentrifizierung eines Viertels, das die schwarze Bevölkerung einst übernahm, als die Asiaten in Camps gesteckt wurden, ist ein quasi eine junge Hommage an Spike Lee. Großartig im Stil, wenn die Freunde zu zweit auf dem Skateboard durch San Francisco rollen, dabei am Wegesrand wunderbare Portraits von Menschen der Stadt aufnehmen.

Die Reaktionen auf den deutschen Beitrag „Das freiwillige Jahr“ von Ulrich Köhler und Henner Winckler reichten von positivem Interesse bis zur Abkanzelung als „kleinem Fernsehfilm“. Obwohl kinotauglich, ist er bisher nur für die Ausstrahlung im WDR Anfang 2020 vorgesehen. Portugiesisch war in Locarnos Kinos häufiger zu hören. Aber der Erfolg für  „Vitalina Varela“ von Pedro Costa ist keinem Trend zu verdanken, sondern der sorgfältigen Arbeit, die dieser Regisseur mit kleinem Team und ruhiger Dramaturgie seit längerem leistet. Die 55-jährige Titel-„Heldin“ Vitalina kommt drei Tage nach der Beerdigung ihres Mannes nach Lissabon. Costa stellt sie und ihr Überleben unter elenden Bedingungen vor. Die Hauptdarstellerin Vitalina Varela, nach der der Film genannt ist, erhielt ebenfalls den Preis für die Beste Darstellerin. Sie spielte schon 2014 in Costas „Horse Money“ mit.

Die Fallhöhe zwischen den Festivals zeigte der letzte Cannes-Sieger „Parasite“ (dt. Start 17.10.), aus Anlass eines Ehren-Leoparden für seinen koreanischen Regisseur Joon-ho Bong („Okja“, „Snowpiercer“, „Mother“). Der koreanische Beitrag im Wettbewerb von Locarno erhielt den Spezialpreis der Jury. „Pa-go“ von Jung-bum Park zeigt eine seltsame Inselgemeinschaft mit einer traumatisierten jungen Frau. Ganz interessant, aber weit davon entfernt, international Festival-Karriere zu machen. Den Leoparden für die beste Regie erhielt Damien Manivel, für die französisch-koreanische Produktion „Les enfants d’Isadora“. Ausgehend vom tragischen Tod der beiden kleinen Kinder der Tänzerin Isadora Duncan (1877-1927) folgt der Film teilweise dokumentarisch in einer tagebuchartigen Form drei Tänzerinnen im heutigen Paris.

Piazza Grande

Deutsche Starts sind für diese Filme noch nicht eingeplant, größere Chancen auf großes Publikum haben generell die Piazza-Filme: „Notre-Dame“ der französischen Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Valérie Donzelli gehörte zu den mehreren „netten“ Filmen auf der Piazza, die des Vorgängers Chatrians Tendenz zu harter Action und lautem Hollywood ersetzt.

Die französische Regisseurin Valérie Donzelli ist selbst Hauptdarstellerin in der Rolle einer Frau, die so sehr gefallen will, dass sie sich gar nichts (zu-) traut. Die in ihrem Architektur-Büro unterdrückte und auch sonst mäuschenhafte Maud, traut sich nicht mal ihren Ex-Mann aus dem Bett zu werfen. Durch einen märchenhaft vom Winde verwehten Architektur-Entwurf wird sie aber zur Siegerin eines 100 Millionen schweren Etats zu Umgestaltung des Vorplatzes von Notre Damme. Eine eitle Bürgermeisterin von Paris ist ihre größte Unterstützerin, doch als die 3D-Präsentation eine Metrostation in Form eines Riesen-Penis vor der Kirche entblößt, gerät das Leben der Architektin so richtig durcheinander. Was als sehr alberne Komödie beginnt, gewinnt durch freche Stilwechsel und durch die muntere Konjugation weiblicher Rollen.

Alles andere als nett dagegen der Gewinner des Variety Piazza Grande Award: Der niederländische „Instinct“ von Halina Reijn war einer der Filme, die im Katalog eine Warnung für empfindliche Gemüter bekamen. Während am Tag vorher eine Diskussion über #metoo lief, fällt in diesem atemberaubend packenden Film ausgerechnet der Satz, dass Frauen ja so viele Vergewaltigungs-Fantasien hätten – von einem mehrfachen und äußerst brutalen Vergewaltiger. Doch auch dieser Piazza-Film lässt sich nicht auf ein einfaches Frauenbild reduzieren. Er ist gleichzeitig faszinierend, beklemmend, unerträglich spannend und irritierend, wie die eigentlich knallharte Gefängnis-Psychologin einem trickreichen Monster (Marwan Kenzari) verfällt. Hauptdarstellerin Carice van Houten, die Priesterin aus „Game of Thrones“, fungierte auch als Ko-Produzentin.

Mit der Dokumentation „Diego Maradona“ (Start am 5.9. in deutschen Kinos) wiederholt Regisseur Asif Kapadia seine Methode, die er schon bei „Amy“ (Winehouse), für die er einen Oscar erhielt, und den Rennfahrerfilm (Ayrton) „Senna“ anwandte. Er arbeitet vor allen Dingen mit Original-Material, diesmal waren es angeblich 500 Stunden. Das Ergebnis ist allerdings mit über zwei Stunden immer noch zu lang – und vor allem oberflächlich sowie ohne roten Faden. Der extreme Niedergang des argentinischen Fußballers bekommt nur zehn Minuten, die schlimmsten Szenen erspart uns der Film.

Die deutsche Produktion „7500“ mit dem Hollywood-Star Joseph Gordon-Levitt hob auf der Piazza als Spielfilm-Debüt von Patrick Vollrath steil ab. Derart gelungene Spannung ohne aufgesetzte Gewalt kann sehr gut die übliche Hollywood-Action ersetzen. Aber es gab mit „Days of the Bagnold Summer“ auch als britischer Humor verkaufte Langeweile auf der Piazza.

Was auch die Lago Maggiore-Touristen neben den 246 Filmen und 432 Vorführungen für die Cineasten erfreuen wird: Das Festival hat äußerlich gründlich aufgeräumt. Der alternative Kramladen auf der sehr großen, tiefer gelegten Verkehrsinsel „La Rotonda“ ist jetzt mehr Festival-Gelände mit Bühne, Konzerten und (immer noch) Essbuden. Direkt daneben wurde das Castello Visconteo, ein altes Schloss aus dem 12.–16. Jahrhundert, zum atemberaubend illuminierten und modern beschallten Treffpunkt für nach dem Abendfilm.