Chaddr – Unter uns der Fluss

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In faszinierenden, ruhigen Bildern erzählt Minsu Park vom gefährlichsten Schulweg der Welt. Im Mittelpunkt steht Tsangyang, ein Mädchen im Himalaya, das in Begleitung des Vaters mehrmals im Jahr durch ein gefährliches Flusstal gehen muss, um ins Internat und wieder nach Hause zu kommen. Steigende Temperaturen und immer weniger Schneefall machen Tsangyangs Reise von Jahr zu Jahr gefährlicher. Doch Tsangyang hat ein Ziel: einen guten Schulabschluss. Dafür ist sie bereit, alle Strapazen auf sich zu nehmen.
Minsu Park klagt nicht an, sondern er visualisiert und berichtet, lässt die Menschen sprechen und zeigt ihr Leben. Das macht seinen Film zu einem ebenso eindringlichen wie authentischen Zeitdokument.

Website: http://filmkinotext.de/chaddr.html

Dokumentarfilm
Deutschland 2020
Buch, Regie, Kamera: Minsu Park
Original Soundtrack: Henrik Ajax
88 Minuten
Verleih: FilmKinoText, Buchung über Die Filmagentinnen
Kinostart: 19.8.2021

FILMKRITIK:

In der atemberaubend schönen Gebirgslandschaft des Himalayas, weit oberhalb der Baumgrenze, lebt die 18-jährige Tsangyang mit ihrer Familie. Ihre Heimat ist ein Tal, 4.000 Meter über dem Meeresspiegel, umgeben von kahlen Berghängen. Lediglich in der Talsohle gibt es Vegetation – hier pflanzen die Bauernfamilien Getreide und Nutzpflanzen an, und hier weiden in den Sommermonaten die kleinen Hausyaks. Das karge Leben in der Hochwüste ist geprägt von den Jahreszeiten. Der Sommer ist extrem kurz, der Winter ist lang. Häufig ist das Dörfchen von der Außenwelt abgeschnitten, weil die einzige Straße unpassierbar ist. Doch es gibt noch einen Weg hinaus und wieder hinein: Ein nahegelegenes Flusstal bildet einen natürlichen Pass, den Chaddr, der über eine Strecke von ungefähr 100 Kilometern das Dorf Zangla mit der alten Karawanenstadt Leh verbindet. Dort befindet sich das einzige Internat der Region, wo Tsangyang demnächst ihre Abschlussprüfungen hat. Ihr Ziel ist Universitätsstipendium. Sie möchte Software-Entwicklerin werden, denn in Zangla gibt es keine Zukunft für sie.

Mindestens viermal im Jahr geht sie gemeinsam mit ihrem Vater den Chaddr. Von Jahr zu Jahr wird die Reise beschwerlicher und dauert immer länger. Der Hauptgrund dafür ist, dass jedes Jahr weniger Schnee fällt und die Temperaturen im Sommer so hoch sind, dass der Fluss manchmal nicht mehr richtig zufriert. Früher bot der Schnee auf dem fast ganzjährig fest zugefrorenen Fluss sicheren Tritt – man konnte gut im Flusstal laufen. Heute ist der Chaddr tückisch geworden und inzwischen ein beliebtes Ziel für Extremtouristen, die mit bester Ausrüstung inmitten von Wasser, Geröll, Felsen, Eis und Schnee den Nervenkitzel suchen. Für Tsangyang und ihren Vater Tundup sieht das ganz anders aus. Für sie ist der Chaddr ein Teil ihres Lebens, das sich immer schneller verändert, und damit auch ein Sinnbild für die Notwendigkeit, sich anders zu orientieren. Seit 18 Jahren begleitet Tundup seine Kinder auf der lebensgefährlichen Reise, um ihnen die Bildung zu ermöglichen, die sie eines Tages unabhängig macht.

Minsu Park zeigt die riskante Tour und wie sich Vater und Tochter mit einfachsten Mitteln der Natur entgegenstellen. So wird die eisige Schönheit der Berglandschaft zur Bedrohung: Sie hangeln an Steigeisen über Felswände, übernachten in düsteren Eishöhlen und zerren einen kleinen Schlitten über die Felsen, der zum Rucksack wird, wenn sie klettern müssen. Doch Minsu Park stellt auch den Alltag der Familie vor: die Mutter, die mit Teppichweberei ein kleines Zubrot verdient und ansonsten gemeinsam mit ihrem Mann die winzigen Felder bewirtschaftet. Sie weint, wenn sie von ihren Kindern spricht. Tsangyang ist die Jüngste und genießt zu Hause die Ferien. Im Drill der Schule ist sie diszipliniert und ehrgeizig.

Das Internat in Leh, wo sie den größten Teil des Jahres verbringt, wirkt auf mitteleuropäische Augen sehr spartanisch. Die Mädchen schlafen in Doppelstockbetten und haben kaum Platz für ihre persönliche Habe, die ohnehin spärlich ist. Überall im Internat stehen Leitsprüche an den Wänden, auf Englisch. Einer von ihnen lautet in der Übersetzung: „Möge deine Sehnsucht nach Erfolg größer sein als deine Angst zu scheitern“. Die Kinder, die hier lernen, haben ein Ziel und einen großen Traum: ein besseres Leben für sich und ihre Eltern. Aber wer es über den Chaddr geschafft hat, wird vermutlich auch alles andere schaffen.

Gaby Sikorski