Mein fremdes Land

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Statt in einem bolivianischen Dorf in größter Armut aufzuwachsen, wurde er in einem schwäbischen Reihenhaus groß: Manuel Sosnowski, der als Adoptivkind nach Deutschland kam und nun, mit Anfang 30, seine Mutter sucht. Eine scheinbar bekannte, schon oft erzählte Geschichte, doch das Regieduo Johannes Preuss und Marius Brüning schlägt in „Mein fremdes Land“ überraschende, berührende Saiten an.

Deutschland 2021
Regie & Buch: Johannes Preuss & Marius Brüning
Dokumentarfilm

Länge: 94 Minuten
Verleih: Arsenal Filmverleih
Kinostart: 5. Mai 20222

FILMKRITIK:

Als er jung war, wollte Manuel Philip Sosnowski nichts über seiner Herkunft wissen. Dass er anders war, dass ihn seine Hautfarbe von seinen Geschwistern, den leiblichen Kindern seiner Adoptiveltern unterschied, hatte er früh erkannt. Doch in der idealen Kindheit, als die Manuel sein Aufwachsen beschreibt, spielte dieser Unterschied keine Rolle. Die wenigen langsam verblassenden Fotos aus dem Kinderheim in Bolivien, in dem der damalige José Noé Estrada im Alter von nur wenigen Tagen gebracht wurde, will Manuel nicht sehen, dreht sie um, will mit der Vergangenheit, seiner Herkunft, nichts zu tun haben.

Erst in späteren Jahren erwacht das Interesse, beginnt er das Thema anzusprechen, das er mit seinem Adoptiveltern bis dahin offenbar ausgespart hatte: Wo komme ich her? Wer ist meine leibliche Mutter? Auf der Suche nach Antworten, die ihn bis in die karge Bergwelt der bolivianischen Anden führen wird, wird Manuel begleitet von den Dokumentarfilmregisseuren Johannes Preuss und Marius Brüning. Mit Kommentaren halten sie sich zurück, lassen Manuel seine Gedanken in die Kamera sprechen, begleiten ihn auf der Suche.

Die von erstaunlich schnellem Erfolg gekrönt ist. Kaum mehr als ein paar Anrufe und Emails scheint es zu dauern, bis ein Kontakt in Bolivien die Mutter von Manuel ausgemacht hat. Aus Armut und Unwillen, sich um noch ein Kind zu kümmern, soll sie Manuel weggegeben haben, doch die Wahrheit erweist sich als komplizierter – und schmerzhafter.

Anfangs mutet „Mein fremdes Land“ an wie einer jener zahllosen Filme, in denen Menschen sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit machen, ein Rätsel in der Familiengeschichte lösen wollen, ein Geheimnis gelüftet werden soll, Filme, wie sie in den letzten Jahren zunehmend beliebt geworden sind. Die Bilder versprechen schöne Landschaften des exotischen Boliviens, die Tonspur dudelt etwas beschwingt vor sich hin, bruchlos scheint die Suche Manuels abzulaufen.

Dass die Suche jedoch nach kaum einem Drittel des Films beendet ist, Manuel seine Mutter trifft und in die Arme schließt deutet jedoch an, dass dies nicht den zentralen Aspekt des Films ausmacht. Denn als Manuel seine Mutter trifft, trifft er nicht etwa eine Frau, die in anderen, aber doch vergleichbaren Umständen lebt, sondern eine Frau, die in bitterer Armut lebt. Der Kontrast zwischen seinem Leben in Deutschland und dem Leben, in das er hineingeboren wurde und in dem seine Mutter auch heute noch lebt könnte nicht extremer sein.

Über ein Drittel der Bevölkerung Boliviens lebt in Armut, meist auf dem Land, was im Hochland Boliviens Berge und karge Böden bedeutet. Hier eine Familie mit vielen Kindern groß zu ziehen ist offensichtlich um ein vielfaches schwieriger als in Schwaben, wo Manuel auch diverse Geschwister hatte. Wie er nun in Bolivien nach und nach die Spuren seiner Familie aufdeckt, hier eine Schwester trifft, doch von einem Bruder hört, der vielleicht sogar sein Zwillings-Bruder sein könnte lässt „Mein fremdes Land“ zu einer emotionalen Reise werden. Die auch am Ende des Films nicht zu ihrem Schlusspunkt gekommen ist, denn nun hat Manuel zwar seine Mutter und einige Geschwister wiedergefunden, steht aber vor der Frage, wie er damit umgeht zu wissen, dass er in Deutschland ein privilegiertes Leben führt, seine Verwandten in Bolivien jedoch ein ganz Anderes. Dass sie keine klaren Antworten geben, dass sie die emotionalen Widersprüche aufzeigen und stehen lassen, macht Johannes Preuss und Marius Brüning Film so bemerkenswert. Als Film über die Suche nach der eigenen Vergangenheit, aber auch über die schmerzhaften Antworten, die Anfangs vielleicht noch gar nicht absehbar waren.

 

Michael Meyns