Queercore – How to Punk a Revolution

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Die Dokumentation „Queercore“ erzählt die Geschichte einer subversiven Subkultur innerhalb zweier Subkulturen, die zunächst sehr gegensätzlich anmuten: Punk und Homo- bzw. Transsexualität. Mit Hilfe seltener Archivaufnahmen, pulsierender Konzert-Mitschnitte und zahlreicher Interviews, verdeutlicht der Film die Hintergründe und Ziele der schwulen Punkmusik. Und: wie weit der Einflussfaktor der Queercore-Bewegung bis in unsere heutige Zeit reicht. Besonders sehenswert machen den Film seine aufwendige Montage und der rasante Schnitt, der dem Werk eine mitreißend-stürmische, druckvolle Eigendynamik verschafft

Webseite: www.salzgeber.de

USA 2017
Regie & Drehbuch: Yony Leyser
Darsteller: Bruce LaBruce, G.B. Jones, Genesis Breyer P-Orridge, John Waters, Justin Vivian Bond, Kim Gordon
Länge: 83 Minuten
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 07. Dezember 2017

FILMKRITIK:

„Queercore“ reist zurück ins Toronto der 80er-Jahre: ab der Mitte des Jahrzehnts formierte sich eine Bewegung, die Punk und queere Lebensweisen zusammenbrachte. Es galt, gesellschaftliche Ignoranz und eine verzerrte öffentliche Darstellung, nicht länger hinzunehmen. Ihren Ursprung fand die Bewegung in einem Fanzine (DIY-Magazin) namens J.D.‘s. Herausgebracht wurde das anarchistische Blatt von Filmemacher Bruce LaBruce und der Künstlerin G. B. Jones. Hinzu kamen subversive Filme von LaBruce sowie anderen Regisseuren und eine stetig wachsende Zahl von Punk-Bands, die mit ihren Songtexten und queeren Themen einen Nerv trafen. „Queercore“ erzählt, wie  aus der anfänglichen Pseudo-Gemeinschaft allmählich eine revolutionäre Welle wurde, die Menschen auf der ganzen Welt erfasste.

„Queercore“ ist der dritte Film des in Chicago aufgewachsenen Regisseurs Yony Leyser. Hierfür führte er unzählige Gespräche mit Mitbegründern der Szene sowie mit Künstlern, die von der Queercore-Bewegung beeinflusst wurden. Darunter solch prominente Kunstschaffende wie der Indie-Regisseur John Waters, Punk-Urgestein Iggy Pop und die Musikerinnen Beth Ditto (Gossip) sowie Kim Gordon von Sonic Youth. Einige dieser Interviewpartner lernte Leyser bereits durch seine Arbeit an seinem hoch gelobten Debütfilm kennen: „William S. Burroughs: A man within“ (2010). Seit 2010 lebt er in Berlin.

Zwar gab es bereits ab Ende der 70er-Jahre wichtige und bekannte queere Punk-Musiker, die sich zu ihrer Sexualität bekannten und Gleichberechtigung forderten. Etwa die transsexuelle Glamrock-Künstlerin Jayne County. Doch erst mit Aufkommen der unabhängigen Publikation J.D.‘s, erwuchs langsam eine eigene Szene. Regisseur Leyser unterstreicht die Bedeutung des Fanzines (erschienen von 1985 bis 1991) und ihrer Macher, indem er Bruce LaBruce und G. B. Jones zu zwei Hauptakteuren seiner Doku macht. Sie kommen am häufigsten zu Wort und erläutern ihre Motivation, Ziele und die Hintergründe, die zur Gründung des Mediums – eine Art revolutionärer, analoger Weblog – führten.

Darüber hinaus ist der Film gespickt mit Clips aus den mindestens ebenso radikalen, kontroversen Filmen der Beiden. Wunderbar zusammen passen die ausgewählten Film-Ausschnitte und die Themen bzw. Inhalte der schwulen Punk-Fanmagazine deshalb, da beide stets dasselbe forderten: ein Ende der falschen Anpassung, Unterdrückung und gesellschaftlichen Einfältigkeit. Mit den Mitteln der – absichtlich provozierenden – Kunst.

Die bewusste aber zielführende Provokation stand auch im Zentrum gerade der frühen Konzerte diverser Queercore-Punkbands. Dies untermauert das tolle, seltene Archivmaterial von einigen Auftritten. Enthemmt, schweißtreibend  und unangepasst ging es dort zu. Mit ihren teils extrem drastischen Texten wollten die Bands die Aufmerksamkeit auf die Subkultur (schwule Punkmusik) innerhalb der Subkulturen (die Punk- und queere Szene) lenken. Was ihnen auch gelang.

Doch „Queercore“ ist noch aus einem anderen Grund empfehlenswert. Der Film ist höchst aufwendig montiert und entwickelt durch seinen rasanten Schnitt, eine ganz eigene Dynamik und Energie. Leyser verbindet die Interviews, Konzert- und privaten Super-8-Aufnahmen, ausgewählten Schlagzeilen der Fanzines sowie (Bewegt-)Bilder der spektakulärsten Queercore-Aktionen zu einem impulsiven Gesamtkunstwerk in Hochgeschwindigkeit. Damit passt die Wirkung und Anordnung der einzelnen filmischen Elemente am Ende wieder ganz wunderbar zur Queercore-Bewegung und wie sie war bzw. noch immer ist: schrill, wild und extrem laut.

Björn Schneider