Nachdem er ein schweres Verbrechen begangen hat, flieht ein mittelloser portugiesischer Landwirt in den nahe gelegenen Wald. Dort beginnt eine Sinnsuche inmitten einer beeindruckenden Natur, in der sich der Mann immer heimischer fühlt. Mit atmosphärischem Feinsinn inszeniert der Portugiese Ico Costa einen sanften, minimalistischen Film, der sich mit Geduld dem Innenleben seines Protagonisten widmet. Ein anspruchsvolles Werk der Stille und inneren Einkehr, das nahezu ohne Dialoge auskommt.
Webseite: wolfberlin.org/de/verleih
Portugal, Argentinien, Frankreich 2019
Regie & Drehbuch: Ico Costa
Darsteller: Henrique Bonacho
Länge: 98 Minuten
Verleih: Steppenwolf Films
Kinostart: 12. Dezember 2019
FILMKRITIK:
Henrique (Henrique Bonacho), ein Mann Mitte 30, lebt in einfachsten Verhältnissen als Bauer allein in einem Landhaus in Zentralportugal. Sein treuester Begleiter ist sein Hund, Besuch von anderen Menschen erhält er nicht. Der aus eintöniger Arbeit bestehende Alltag und die Einsamkeit haben aus Henrique einen schwermütigen, gebrechlichen Mann gemacht. Und noch etwas anderes scheint ihn zu belasten. Eines Tages begeht Henrique mit seinem Gewehr eine Straftat, die ihn zur Flucht in den Wald zwingt. Dort versteckt er sich vor den Konsequenzen seiner Tat, aber ebenso vor seinem eigenen Leben und der Welt um ihn herum.
Eine Identifikation mit einer filmischen Hauptfigur gelingt am ehesten, wenn man Verständnis für deren Handeln aufbringt und sich problemlos in diese hineinversetzen kann. Dafür braucht es in aller Regel Informationen über die Figur, über deren Hintergründe und die persönliche Geschichte. Auf all das verzichtet Regisseur und Produzent Ico Costa in seinem bemerkenswerten Mix aus Kriminalfilm, Natur-Meditation und Drama. Er steigt mitten ins Geschehen ein und konfrontiert den Zuschauer mit einem traurig dreinblickenden Mann, der in seinem spärlich eingerichteten Haus sitzt und mit seiner leicht geduckten Körperhaltung so wirkt, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun.
Informationen über Henrique liefert Costa, der sich von zwei in der Presse veröffentlichten Geschichten zu seinem Film inspirieren ließ, fast keine. Und auch Worte verlassen nur ganz selten Henriques Mund. Überhaupt kann man die Anzahl der im gesamten Film vorkommenden Dialogzeilen an zwei Händen abzählen. Und trotzdem, obwohl man also so gut wie nichts über diesen seltsamen Kauz weiß, fühlt man sich Henrique irgendwie nahe und entwickelt Sympathien für ihn. Dies liegt vor allem an Henrique Bonachos außer-gewöhnlicher Darbietung: Durch seinen beständig traurigen Gesichtsausdruck und die authentische Körpersprache verleiht er seiner tragischen Figur eine ungemeine psychologische Tiefe.
Apropos Authentizität: Costa legt von Beginn an großen Wert auf Wahrhaftigkeit. Und gerade in den Szenen, die Henrique im Wald zeigen, setzt er auf dokumentarischen Realismus. Costa filmt seinem Hauptdarsteller entweder direkt über die Schulter, zeigt ihn konsequent von vorne oder beobachtet aus größerer Distanz die Geschehnisse. Das alles stets mit Handkamera und auf 16-mm-Schmalspurfilm um größtmögliche Wirklichkeitsnähe zu erreichen. Rund drei Viertel des Films spielen in der Natur und zeigen einen Mann, der mit dieser zu verschmelzen beginnt.
Henrique gönnt sich eine Abkühlung im Fluss (es ist der in der Mitte Portugals gelegene Fluss Alva, der dem Film seinem Namen gibt), überquert Wiesen und Weideflächen, schläft unter Bäumen, ernährt sich von Beeren und macht den Wald so zu seinem – neuen – Zuhause. Unterdessen nimmt sich Costa für seine Beobachtungen Zeit. Teils minutenlang richtet er seine Kamera ohne Schnitt auf Henrique, menschliche Worte sind in dieser Zeit keine zu vernehmen. Stattdessen das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen und das Rascheln der Blätter im Wind. Und so versprüht „Alva“ letztlich auch eine ungemein beruhigende, fast meditative Aura.
Björn Schneider