Das Glaszimmer

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Die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges aus Kindersicht imaginiert Christian Lerch in seinem Film „Das Glaszimmer“, der auf dem bayrischen Land eine Welt zeigt, in der der Krieg fast nur im Volksempfänger präsent ist. In dieser Welt versucht ein elfjähriger Junge zu Entscheiden, ob Freundschaft oder Moral wichtiger ist.

Deutschland 2020
Regie: Christian Lerch
Buch: Christian Lerch und Josef Einwanger
Darsteller: Lisa Wagner, Hans Löw, Xari Wimbauer, Luis Vorbach, Barbara Romaner,
Philipp Hochmair, Heinz-Josef Braun, Johann Schuler
Länge: 93 Minuten
Verleih: farbfilm Verleih
Kinostart: 28. April 2022

FILMKRITIK:

Die alliierten Truppen rücken unaufhaltsam vor, das Ende des Zweiten Weltkrieges rückt näher, doch auf dem bayrischen Land läuft das Leben geradezu beschaulich ab. In München fallen jedoch schon Bomben und so ziehen Anna (Lisa Wagner) und ihr elfjähriger Sohn Felix (Xari Wimbauer) kurz vor Kriegsende aufs Land ins Haus einer verstorbenen Tante.

Während Anna alles andere als eine begeisterte Nationalsozialistin ist, herrscht im Dorf ungebrochener Patriotismus. „Hier begrüßt man sich mit Heil Hitler!“ erklärt der Ortsgruppenleiter Feik (Philipp Hochmair) gleich zu Beginn, sein Sohn Karri (Luis Vorbach) trägt stolz die Uniform der Hitlerjugend. Dennoch wird Felix sein Freund, man spielt gemeinsam Westfront, übt mit Gasmasken, spricht über die Väter: Während Feik wegen eines Hinkebeins nicht an die Front kann, kämpft Felix’ Vater Bernd (Hans Löw) im Osten. Doch auch in der dörflichen Idylle kommt der Krieg näher, ein Bomber lässt seine Ladung fallen, doch nach der Explosion zwitschern schnell wieder die Vögel. Besonders ein Zimmer im Haus ermöglichst es Felix, den Krieg nicht in seine Gedanken kommen zu lassen: Das Glaszimmer, ein magischer Raum, in dem das Licht bunte Schatten auf die Holzwände wirft und Scherben funkeln.

Co-Autor und Regisseur Christian Lerch hat viel Erfahrung mit Geschichten, in denen Kinder im Mittelpunkt stehen, die aber keineswegs kindisch sind: Für das Buch zu Marcus Rosenmüllers „Wer früher stirbt ist länger tot“ erhielt er den Deutschen Filmpreis, auch am Buch zu „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ schrieb er mit, kennt sich also gut mit Erzählungen aus, die eine dezidiert kindliche Perspektiven wählen. Und nur aus dieser Perspektive macht es Sinn, dass der Krieg im Frühjahr 1945 – nimmt man die kurzen Ärmel und leichten Kleider, die getragen werden, zum Maßstab, muss es eher Ende April als März sein – kaum präsent im Dorf scheint. Wie realistisch dies ist sei dahingestellt, in der Welt von „Das Glaszimmer“ deutet jedenfalls wenig darauf hin, dass auch Bayern bald von alliierten Truppen erobert, dass das Dritte Reich in wenigen Tagen vorbei sein wird.

Wovon Lerch erzählt, ist dann auch weniger eine Geschichte von Bedrohung und Zerstörung, als ein sensibler Blick auf einen Jungen, der dazugehören möchte. Und dazugehören bedeutet in diesem Fall, sich mit dem Sohn eines eingefleischten Nazis anzufreunden, sich dessen Ideologie zu Eigen zu machen und die eigenen Werte zunehmend zu vergessen. So kindlich der gewählte Blick auch sein mag, „Das Glaszimmer“ erzählt auf eindringliche Weise vom Leben im Krieg, vom Wunsch, dazuzugehören, von Mitläufertum und Opportunismus. Themen also, mit denen man sich zu jeder Zeit auseinandersetzen sollte.

Michael Meyns