Die letzte Stadt

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In den letzten 30 Jahren drehte Heinz Emigholz minimalistische Architektur-Dokumentation, vor einigen Jahren begann ein vorsichtiges Heran- bzw. Zurücktasten an narrative Formen, ein Weg, der mit „Die letzte Stadt“ fortgesetzt wird. Architektur spielt auch hier eine Rolle, dazu jedoch dichte, auch absurde Dialoge über Waffenbau, Kriegsschuld, Kosmologie und Inzest, von wechselnden Schauspielern in einem weltweiten Reigen diskutiert.

Website: www.filmgalerie451.de/de/filme/die-letzte-stadt

Deutschland 2020
Regie & Buch: Heinz Emigholz
Darsteller: John Erdman, Jonathan Perel, Young Sun Han, Dorothy Ko, Susanne Sachsse, Laurean Wagner
Länge: 100 Minuten
Verleih: Filmgalerie 451
Kinostart: 21.10.2021

FILMKRITIK:

In „Streetscapes [Dialogues]“ von 2017, spielten John Erdman und Jonathan Perel einen Filmemacher bzw. einen Psychiater, Charaktere, die auf Emigholz eigenen Gesprächen mit einem Psychiater basierten, die er während einer Krise führte. In „Die letzte Stadt spielen Erdman und Perel nun einen Archäologen und einen Waffenhändler, die sich daran erinnern, in früheren Leben Filmemacher bzw. Psychiater gewesen zu seinen.

Das Duo befindet sich in der israelischen Stadt Be’er Sheva, anfangs in einem Ausgrabungsfeld, später in einer Schule und einem Hotelzimmer. Sie führen zwar einen fast ununterbrochenen Dialog, bewegen sich durch den Schnitt jedoch kaum merklich transportiert durch die Geographie der Stadt. Fließend geht es dann weiter nach Athen, in andere Ausgrabungen, wo erneut Erdman zu sehen ist, diesmal jedoch in der Rolle eines alternden Künstlers. Dieser wacht auf und findet neben sich im Bett eine Inkarnation seines jüngeren Ichs wieder, gespielt von Young Sun Han. Dieser spielt in der nächsten Station Berlin einen Priester, der eine inzestuöse Beziehung mit seinem Bruder (Laurean Wagner) hat, einem Polizisten. Ihre Mutter (Dorothy Ko) ist auch in der nächsten Station zu sehen, die in Hong Kong gedreht wurde, wo sie eine Chinesin spielt, die einer Japanerin (Susanne Sachsse) schwere Vorwürfe für die grausamen Kriegsverbrechen macht, die während des Zweiten Weltkriegs von japanischen Truppen in China, Korea und andere Ländern verübt wurden, für die im Nachkriegsjapan jedoch kaum Reue gezeigt wird. Sachsse ist wiederum auch in der fünften und letzten Stadt São Paulo zu sehen, hier als Kuratorin eines Museums, die mit einem Kosmologen (gespielt mit dem aus der ersten Episode bekannten Jonathan Perel), über Kosmologie, die Existenz von Außerirdischen, die Möglichkeit von Künstlicher Existenz und der Rolle des Menschen im Universum diskutiert.

So frei und grenzenlos Orte und Rollen wechseln, so frei bewegt sich der inzwischen 72jährige Emigholz durch die Themen, die ihn umtreiben: Familie, das Verhältnis von jung und alt, Waffendesign, Kosmologie und Kriegsschuld. In dichten Dialogen sprechen seine Protagonisten über diese Themen, reihen Gedanken und Überlegungen aneinander, die mal zum absurden, dann wieder zum ernsthaften neigen.

Dass Emigholz nach fast 30 Jahren, in denen er praktisch ausschließlich für seine minimalistischen, fast immer mit statischer Kamera gefilmten Architektur-Dokumentationen bekannt war, nun zum Spielfilm – im weiteren Sinne des Wortes – zurückkehrt, mag überraschen. Das sein letzter narrativer Film „Der zynische Körper“ 1991 entstand war jedoch keine bewusste Entscheidung, sondern dem finanziellen Misserfolg geschuldet. Die Idee zu „Die letzte Stadt“ entstand schon 2003, der Wunsch in verschiedenen Städten, mit Schauspielern in wechselnden Rollen zu drehen, entwickelte sich über die Jahre zu einem verspielten, oft enigmatischen Film, der doch ganz in der Tradition von Emigholz Werk steht. In typisch verkanteten Einstellungen filmt er seine Protagonisten, die Architektur steht diesmal nicht im Vordergrund, spielt als wechselnder Hintergrund jedoch eine wichtige Rolle. Von archäologischen Ausgrabungsstätten, über wechselnde Hotelzimmer, bis zur Hypermodernität Hong Kongs zeichnen die Gebäude ein Bild der menschlichen Entwicklung, in der sich die Themen der Dialoge spiegelt. In seiner offenen Form ist „Die letzte Stadt“ schwer zu greifen, sehr eigen, ungewöhnlich und anspruchsvoll. Kein Film zum entspannten Zuschauen, sondern ein Werk, das Mitdenken und Aufmerksamkeit verlangt.

Michael Meyns