Die Rettung der uns bekannten Welt

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Mit „Honig im Kopf“ gelang Til Schweiger das schwierige Kino-Kunststück, jenes heikle Thema Demenz zum ganz großen Publikumserfolg mit über 7 Millionen Besuchern zu machen. Nun greift er (als Koautor, Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller) abermals eine Krankheit auf und wirbt in tragikomischer Form für Verständnis. Der jugendliche Held Paul (Emilio Sakraya) leidet an einer bipolaren Störung - so wie etwa 3 von 100 Menschen hierzulande, wie die Statistik weiß. Rührend versucht Vater Hardy (Til Schweiger) seinem kranken Sohn zu helfen - doch leichter gesagt als getan. Wie üblich hat Schweiger keinerlei Berührungsängste mit tiefergelegten Pointen und Furzhumor. Zugleich gelingt ihm mit souveräner Lässigkeit ein sensibles Drama, das berührt. Nicht zuletzt Dank dem angesagten Jungstar Emilio Sakraya, der als legitimer Nachfolger von Elyas M’Barek gehandelt wird.

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Deutschland 2021
Regie: Til Schweiger
Darsteller: Til Schweiger, Emilio Sakraya, Tijan Mareim Bettina Lambrecht, Emily Cox, Herbert Knaup, Emma Schweiger
Filmlänge: 135 Minuten
Verleih: Warner Bros. Pictures Germany
Kinostart: 11.11.2021

FILMKRITIK:

„Es gibt Leute, die sagen, ohne Schlaf wirst du irre. Aber was, wenn es in Wahrheit genau umgekehrt ist. Was, wenn es der Schlaf ist, der dich irre macht.“ Solchen Gedanken vertraut der junge Held Paul gleich zum Auftakt dem Publikum an. Der 18-Jährige leidet an einer biopolaren Störung, gespielt wird er vom aktuell angesagten Jungstar Emilio Sakraya („Tribes of Europa“). Der Mime mit einem Deutschen Meistertitel in Karate zeigt gleich zu Beginn sportlichen Action-Einsatz der rasanten Art. Er läuft Parcours durch die nächtlichen Straßen und steigt waghalsig auf einen Turm. Hinter der coolen Schale steckt freilich ein sensibler Kern. Den frühen Tod der Mutter hat er noch immer nicht bewältigt. Fürsorglich kümmert Paul sich um seine jüngeren Geschwister. Als er unüberlegt seine Aufsichtspflicht verletzt und die Kids die Küche abfackeln, kommt es zum Eklat mit dem Vater (Til Schweiger).

Nach einem verzweifelten Suizid-Versuch kommt Paul in eine psychiatrische Klinik. Mit seinen jungen Leidensgenossen versteht er sich auf Anhieb bestens, insbesondere die smarte Toni (Tijan Marei) hat es ihm angetan. Bald werden die beiden ein Paar und planen ihre Flucht in die Freiheit. Papa Hardy gerät ebenfalls, wenngleich zunächst zögerlich, in Flirt-Stimmung. Weil die abgebrannte Wohnung unbenutzbar ist, zieht der Vater mit seinen Kindern vorübergehend bei seiner stets gutgelaunten Arbeitskollegin Anni (Bettina Lamprecht) ein. Die ist schon lange heimlich in Hardy verknallt. Mit ihrem Heimvorteil wagt sie nun eine Liebesoffensive - die selbst eine ziemlich peinliche Toiletten-Situation souverän übersteht.

Es ist ein typischer Schweiger, der die bewährten Zutaten vom erfolgreichsten Filmschaffenden des Landes verwendet. Angefangen von der amerikanischen Polizeisirene, die seit „Knockin’ on Heaven’s Door“ stets zu hören ist. Über den visuellen Stil samt der Küchenkulisse. Bis zum Humorspektrum, das keine Berührungsängste vor tiefergelegten Pointen mit Furzhumor kennt, bisweilen aber durchaus Comedy-Feinkost mit cleverem Wortwitz präsentiert. Fast in der Loriot-Liga spielt jene Szene, in der eine Psychologin im TV-Interview erklären soll, was bipolar bedeutet. Ständig wird die Aufnahme in jeder Wiederholung verstolpert: der „Lottogewinner“ und Erwin Lindemann lassen grüßen.

Ein denkbar heikles Thema wie Depression und Bipolarität lässt sich nur mit Humor auf der Leinwand präsentieren, wenn es publikumswirksam ausfallen soll. Schweiger hat in „Knockin’ und „Honig“ überzeugend gezeigt, wie souverän er die Balance zwischen Komik und Tragik beherrscht. Die Lässigkeit mag bisweilen läppisch geraten, die Lovestory sich im Klischee-Gestrüpp verheddern und die Kids einen Kick zu altklug wirken. Das tut dem charmanten Kern der bewegenden Geschichte und ihren glaubhaften Figuren indes keinen Abbruch. Das Empathie-Potenzial fällt enorm aus, der Comedy-Quotient sorgt für die notwendige Entspannung zwischen der ernsten Thematik. Optisch wird gleichfalls allerlei geboten: Ob eine rasante Autofahrt durchs Maisfeld oder jene Actionsequenz auf einem rostigen Industrie-Schlot. Die Stunts absolviert Nachwuchsmime Emilio Sakrayam 25, allesamt selbst. Schauspielerisch überzeugt der leinwandpräsente Charismatiker nicht weniger und beherrscht mit scheinbarer Leichtigkeit die emotionale Achterbahn von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Dessen Talent hat mittlerweile auch Fatih Akin entdeckt, für den er demnächst in „Rheingold“ den Gangster-Rapper Xatar gibt.

Dieter Oßwald