Die Rote Kapelle

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Von der Weißen Rose oder Stauffenberg hat wohl jeder schon gehört, von der Roten Kapelle dagegen nur die wenigsten. Dabei waren die Aktivitäten der jeweiligen Widerstandsgruppen im Dritten Reich durchaus vergleichbar. Dieses historische Ungleichgewicht sucht Carl-Ludwig Rettinger mit seinem Dokumentarfilm „Die Rote Kapelle“ zu beheben.

Website: www.farbfilm-verleih.de/filme/die-rote-kapelle

Dokumentarfilm
Deutschland 2020
Regie & Buch: Carl-Ludwig Rettinger
Länge: 122 Minuten
Verleih: farbfilm verleih
Kinostart: 26.8.2021

FILMKRITIK:

So dramatisch, aufregend und am Ende tragisch ist die Geschichte der Roten Kapelle (genauer sollte man wohl sagen: Von den Roten Kapellen), dass man versucht ist zu sagen: Was für ein Spielfilm-Stoff. Und so überrascht es auch nicht, dass ein neuer Spielfilm zum Thema in Arbeit ist und es vor gut fünf Jahrzehnten schon einen Spielfilm und eine Fernsehserie gab. Der Spielfilm hieß „KLK ruft PTX – Die Rote Kapelle“, entstand in der DDR, wurde auf 70mm gedreht und war eine der größten Produktionen der DEFA. Die Serie hieß schlicht und einfach „Die Rote Kapelle“ und war eine deutsch-französische Koproduktion.

Diese beiden Filme bilden nun das visuelle Rückgrat von Carl-Ludwig-Rettinger und zeigen zudem auf faszinierende Weise, wie Geschichte missbraucht werden kann, nicht durch offene Fälschung, sondern durch Auslassung. Nicht nur in unterschiedlichen Ländern entstanden diese Produktionen, sondern in unterschiedlichen Systemen, die sich Anfang der 70er Jahre noch mitten im Kalten Krieg befanden. So wurden die Widerstandsgruppen, die die Rote Kapelle ausmachten, für das jeweilige System instrumentalisiert. Auf der einen Seite ehemalige Gestapo-Leute, auf der anderen Vertreter der Stasi beeinflussten die Darstellung: Im Osten entstand ein heroisches Widerstandsdrama, im Westen eine Agentenstory mit roten Spionen und Hochverrat, die allerdings die Verbrechen der Gestapo so beschönigend schilderte, dass die Ausstrahlung in Frankreich nach Zuschauerprotesten abgebrochen wurde.

Dass sich die Rote Kapelle zu so unterschiedlicher Interpretation anbot, liegt wohl auch daran, dass es sich bei ihr nicht um eine klar definierte Gruppe wie eben die Weiße Rose handelte, sondern um verschiedene Gruppen, die lange völlig unabhängig voneinander agierten und von den Nazis unter dem Oberbegriff Rote Kapelle zusammengefasst wurden. Der so genannte Schulze-Boysen/ Harnack-Kreis agierte in Berlin und bestand vor allem aus dem Luftwaffenoffizier Harro Schulze-Boysen, der durch seinen Job Zugang zu Geheiminformationen hatte. In Brüssel agierte wiederum eine Gruppe um Leopold Trepper, der seit 1938 für den sowjetischen Militärgeheimdienst GRU tätig war. Dieser Kontakt zur Sowjetunion machte es auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs leicht, die Aktivitäten der Roten Kapelle als Landesverrat zu diffamieren. Lange Jahre prägte diese Sicht den Blick auf die Rote Kapelle, erst in den letzten Jahren ermöglichten auch die Öffnung von Archiven in Moskau eine Neubewertung.

Auch die Enkel der oft in Konzentrationslagern ermordeten Mitglieder spüren ihren Verwandten nach, zum Beispiel Lital Levin, die Großenkelin von Leopold Trepper. Interviews mit ihr und anderen ergänzen zusammen mit historischen Aufnahmen die Bilder der Spielfilme. Aus diesen drei Eben formt Carl-Ludwig Rettinger seine Neubewertung der Roten Kapelle, einer vielschichtigen Verknüpfung von Widerstandsgruppen, die noch ihren Platz im historischen Gedächtnis sucht.

Michael Meyns