Gunda

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Ferkel im Glück – und ein Bauernhof als friedliche Heimat: Viktor Kossakowsky (AQUARELA) zeigt in fein komponierten meditativen Schwarzweiß-Bildern das Landleben aus Sicht von Haus- und Hoftieren. Es gibt weder Musik noch Kommentare, und Menschen spielen keine Rolle. Der scheinbare Minimalismus formt sich schnell zu einer verblüffenden und enorm wirkungsvollen Bildsprache, die einerseits visuelle Meisterschaft und andererseits die starke Zuwendung zu den gezeigten Tieren und generell zum Leben offenbart. Ganz ohne offenen Appell und ohne direkte Ansprache wird der Film auf diese Weise zum Bekenntnis für die friedliche Koexistenz zwischen Mensch und Natur. - Ausgezeichnet beim 28. Filmfest Hamburg im Herbst 2020 mit dem Publikumspreis.

Webseite: www.filmweltverleih.de

Dokumentarfilm
Norwegen, USA 2020
Regie: Viktor Kossakovsky
Buch: Viktor Kossakovsky, Ainara Vera
Verleih: Filmwelt
Kinostart: 1.4.2021

FILMKRITIK:

Viktor Kossakovsky, dessen famoses Filmessay AQUARELA im Jahr 2019 in den Kinos lief, bezeichnet sich selbst als „ersten Vegetarier Russlands“. Das ist einerseits ziemlich witzig (und stimmt vermutlich überhaupt nicht), andererseits führt es auch gleich hin zur generellen Problematik. Die Wahrnehmung für das Tierwohl hat sich in den letzten Jahren verändert, wozu auch das Verhältnis zwischen Mensch und Haustier gehört, zu nicht nur Katzen und Hunde gehören, sondern auch Hühner, Schweine, Schafe und Rinder. Der Begriff „Nutztiere“ ist nicht nur entlarvend, er sagt einiges über die Hierarchie. Die Menschen nutzen, die Tiere werden ge- oder be- oder ausgenutzt. Inzwischen weiß vermutlich jeder, wie es kommt, dass Fleisch und andere Tierprodukte in Deutschland so preiswert verkauft werden können.

Angenehmerweise verzichtet Viktor Kossakovsky auf Anklage und Pamphlete ebenso wie auf Abbildungen des Elends. Stattdessen beobachtet und zeigt er, ganz in Ruhe und vollkommen ohne Kommentar, das Leben auf einem Bauernhof. Das ist einer von der Sorte, wie sie beinahe nur noch in Kinderbilderbüchern existieren: mit freilaufenden Hühnern, mit Rindern auf der Weide, und mit einem großen, dicken Schwein. Im Wesentlichen zeigt Kossakovsky die Geschichte der Sau Gunda, die er einige Monate lang begleitet. Zu Beginn liegt sie scheinbar unbeteiligt und etwas schläfrig in der offenen Stalltür. Doch dann geht’s los: Um sie herum erwacht das Leben in Gestalt von unzähligen neugeborenen Ferkeln, die um Gunda herumwuseln, immer auf der Suche nach ihren Zitzen, und die schließlich den Weg aus dem Stall nach draußen finden. Die kleinen Schweinchen fressen, schlafen und wachsen – Gunda kümmert sich um sie, führt sie aus dem Stall hinaus auf die Wiese, wo sie das Wühlen üben, sich untereinander kabbeln und schon mal auf der Mutter rumturnen dürfen.

Zwischendurch wechseln die Darsteller und das Thema: Eine Schar Hühner, offenbar soeben aus Käfighaltung befreit, geht hinaus in die Welt. Vorsichtig schreiten sie über die Wiese, als wollten sie jeden einzelnen Grashalm spüren. Einige Hühner und Hähne sind stark zerrupft oder verletzt, doch sie alle scheinen, bewusst oder unbewusst, die Freiheit zu entdecken und zu genießen. Mit der Zeit werden sie mutiger, sie bewegen sich schneller, erforschen ihre Umgebung und üben das Flattern und Fliegen. Während Gunda und ihre kleinen Schweinchen sich weiter auf der Wiese und in der Suhle amüsieren, geht es auf die Kuhweide, die zunächst von einer Herde Ochsen im Galopp erobert wird. Später kann man den Rindern zusehen, wie sie sich geschickt gegenseitig die Fliegen wegwedeln. Die niedlichen kleinen Ferkel vom Anfang sind inzwischen zu bemerkenswertem Format herangewachsen und werden immer selbständiger. Doch es wird nicht mehr lange dauern, bis sie von Gunda und dem Bauernhof Abschied nehmen müssen.

Kossakovskys Film ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: Zuallererst gibt es keine direkte Agitation. Stattdessen lässt er sozusagen die Tiere für sich sprechen. Und obwohl klar ist, dass es Menschen geben muss, die sich um die Tiere kümmern, die sie füttern und pflegen, die Ställe reinigen und Tore schließen oder öffnen, gelingt es ihm, all das auszusparen. Die ca. 15 Ferkel vom Beginn sind am Ende nur noch zu zehnt – hier dürfte ebenfalls der Mensch eingegriffen haben, doch diese Aspekte spielen für den Gesamtzusammenhang keine Rolle. Auch wenn zu merken ist, dass es sich um mehrere Bauernhöfe handelt, ergibt Kossakovskys Konstruktion vom idealen Landleben ein absolut geschlossenes Bild: ein idyllisches Heim für Tiere, die – siehe die Hühner und die Rinder – vom Menschen misshandelt, drangsaliert und geschunden wurden und jetzt befreit sind bzw. die hier ganz nach ihrer Natur – siehe die Schweine – leben dürfen. Zu beobachten, wie die armen Tiere wieder das Leben im Freien, die Bewegung und damit sich selbst entdecken, ist eine große Freude.

Kossakovskys Bildsprache verbindet wieder in herausragender Weise Exklusivität und Originalität: Die Kamera bleibt stets auf Augenhöhe der Tiere, bei Gunda etwa in Schweineschnauzenhöhe, und geht sehr dicht an sie heran. Es gibt Nahaufnahmen von den Ferkelchen, die wie Porträts wirken, aber auch Detailbilder, so von einem tastenden, vorsichtigen Hühnerfuß, der sich langsam ins Gras senkt. Die Schwarzweißbilder verstärken die Wirkung noch: Der Blick wird konzentrierter, mögliche Ablenkungen minimieren sich. Manche Bilder wirken, ähnlich wie in AQUARELA, so durchkomponiert wie die Silben eines Gedichtes – doch anstelle von Wörtern gibt es lange, ruhige Einstellungen. Manche sind wie gemalt – die Kadrage, also die Wahl der Bildausschnitte, ist ebenso originell wie beeindruckend: ein Schweinekopf in der Stalltür erinnert an ein Familienwappen, und zwei neugierige Ferkelgeschwister, die mit hochgereckten Schnäuzchen Regentropfen fangen, werden plötzlich zu Darstellern in einer Neufassung von „Singing in the Rain“ auf dem Bauernhof. So zeigt sich das Leben der Tiere auf dem Bauernhof als gleichzeitig fremdartige und alltägliche Welt, was darin mündet, dass die Tiere, nicht nur Gunda, eine eigene Identität erhalten und entwickeln. Wenn Gunda am Ende nach ihren Kindern sucht, die von einem Lkw abgeholt wurden und als Spanferkel einem sehr klaren Schicksal entgegengehen, dann ist das nicht nur für verwöhnte Stadtmenschen eine schmerzliche Erfahrung, sondern auch für abgebrühte Cineasten. Diese können aber zusätzlich die Kunstfertigkeit bewundern, mit der Viktor Kossakovsky seine Vision von einem friedlichen Leben auch für Tiere zeichnet. In diese ruhigen, Bilder kann und muss man sich hineinfallen lassen wie in einen kühlen Gebirgsbach an einem heißen Sommertag. Die Wirkung ist ähnlich erfrischend und aufmunternd.

Gaby Sikorski