Into the Ice

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Blaugrüne Eisströme in klaffenden Canyons, kalbende Gletscher, faszinierende Eishöhlen und eine Handvoll mutiger Menschen auf Expedition ins Unbekannte. Lars Henrik Ostenfelds Film ist ein grandioses visuelles Erlebnis, ebenso überwältigend wie nachdenkenswert –ein mitreißendes Kinoabenteuer über die noch immer weitgehend unerforschten Eiswelten und ihre Bedeutung für den Klimawandel. Das Tüpfelchen auf dem I ist die Stimme von Campino (“Die Toten Hosen”), der als Erzähler durch den Film führt.

Webseite: https://riseandshine-cinema.de

Dokumentarfilm
Dänemark, Deutschland 2022
Buch, Regie, Kamera: Lars Henrik Ostenfeld
Erzähler: Campino

85 Minuten
Verleih: RISE AND SHINE CINEMA
Kinostart: 15. September 2022

FILMKRITIK:

Der Klang des Eises liegt über den Bildern, er ist schön und beängstigend zugleich. So wie der ganze Film. Ostenfeld begleitet eine Wissenschaftlerin und zwei ihrer Kollegen auf ihren faszinierenden Forschungsreisen zu den konkreten Auswirkungen der Erderwärmung auf das Inlandeis Grönlands: Dorte Dahl-Jensen, genannt „die Eiskönigin“, ist eine weltbekannte dänische Glaziologin. Auf ihren Berechnungen zum Anstieg des Meeresspiegels basiert u. a. das Pariser Klimaabkommen von 2015. Sie war eine der Ersten, die Bohrkerne aus dem Eis holten und analysierten. Dank ihrer Forschungen lassen sich die Bewegungen von Eisströmen und die Dynamik der Eisschmelze errechnen. Mit Dorte Dahl-Jensen reist Lars Henrik Ostenfeld in die Vergangenheit, denn die Forscherin kennt und untersucht kilometerdicke Eisschichten, die bis zu 100.000 Jahren alt sind. Vieles vom heutigen Wissen über das Eis ist einer Küchenwaage, einer Plastiktüte und einem einfachen Bohrer zu verdanken; so hat die Glaziologie einmal angefangen. Obwohl inzwischen schon einiges mehr über das Verhalten von Eisströmen bekannt ist, gibt es doch immer noch viele Unklarheiten. Wie schnell bewegt sich der Eisschild? Heute eindeutig viel schneller als früher, sagt Dorte Dahl-Jensen. Man könne es sogar sehen. Aber welche Rückschlüsse lassen sich daraus zum Beispiel für Klimamodelle ziehen?

Auch Jason Box ist ein weltbekannter Glaziologe und wie seine beiden Kollegen dem Eis und der Landschaft Grönlands verfallen. Er forscht über die Zusammenhänge zwischen den steigenden Schneefällen in Grönland und der Eisschmelze. Grönland fungiert als eine Art globales Thermometer, denn was hier mit dem Eis geschieht, passiert überall auf der Welt, natürlich auch in der Antarktis. In Grönland zeigt sich die Veränderung nur am schnellsten und am klarsten. Wilde Wasserströme sprudeln auf dem Eisschild in wunderschönen Blau- und Türkistönen durch schmale Eiscanyons, dann verengen sie sich unerwartet und stürzen in einem gewaltigen Strudel in die Tiefe – eine „Gletschermühle“ entsteht. Nur mit einem Seil gesichert wagt sich der dritte Glaziologe im Film, Alun Hubbard, über 180 Meter hinab, eine abenteuerliche, gefährliche Reise ins Unbekannte. Es geht um das Verhältnis von Eis und Schmelzwasser, denn nur in einem Feldversuch lassen sich tatsächliche Erkenntnisse gewinnen – Computermodelle und -berechnungen bieten lediglich Ansätze, klare Ergebnisse gibt es nur vor Ort.

Die Bilder aus den Tiefen des Eises sind von einer beinahe unwirklichen Schönheit, doch hinter ihnen steht für alle Beteiligten das Bewusstsein, Augenzeuge der Klimakrise zu sein. Dass sich alle drei Glaziologen, die hier in Grönland forschen, in Lebensgefahr begeben, wird dabei besonders deutlich. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen birgt das Eis tödliche Gefahren. Auch wenn der Eisschild mit seinen Wellen wie das Standbild eines Ozeans aussieht: Man muss ständig auf der Hut sein, denn das Eis ist trügerisch und in ständiger Bewegung. Die Eisschmelze in Grönland ist eine Katastrophe im Zeitlupentempo, aber sie schreitet ständig voran und verstärkt sich jedes Jahr. Der Film von Lars Henrik Ostenfeld ist dabei durchaus als Mahnung und als Appell zu verstehen: Die Natur ist im Wandel, sie spricht zu uns. Wir sollten ihr zuhören.

 

Gaby Sikorski