Irdische Verse

Zum Vergrößern klicken

Mit sarkastischem, grimmigem Witz erzählt der Episodenfilm „Irdische Verse“ von Menschen, die zum Opfer der übermächtigen, staatstreuen iranischen Bürokratie werden. Ob Meldestelle, Schule, Jobcenter oder Bürgeramt: die dortigen Mitarbeiter scheinen vom autoritären Regime indoktriniert. Mit entwaffnender Ehrlichkeit und absurden Szenen angereichert, präsentiert „Irdische Verse“ eine vielschichtige Gesellschaft. Und zeigt auf, wie ein politisch gelenkter Behördenapparat einfache Bürger zur Verzweiflung bringen kann.

Iran 2023
Regie: Ali Asgari, Alireza Khatami
Buch: Ali Asgari, Alireza Khatami
Darsteller: Bahman Ark, Arghavan Shabani,
Servin Zabetiyan
Länge: 77 Minuten
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
Kinostart: 11. April 2024

FILMKRITIK:

In neun Geschichten schildert „Irdische Verse“ von den alltäglichen und doch unglaublichen Begegnungen zwischen Menschen und dem bürokratischen Apparat im Iran. Es ist der gewöhnliche Wahnsinn, der sich in Form grotesker, nicht nachvollziehbarer Regelungen und Gesetze tief ins Leben der Menschen eingräbt. Der iranische Staat mischt scheinbar in jeglichen Fragen, sogar der Mode und des Körperschmucks, sowie intimsten Angelegenheiten seiner Bürger mit.
„Szenen einer Ehe“ heißt ein bekannter Film von Ingmar Bergmann. „Szenen einer absurden Bürokratie“ könnte ein passender Untertitel dieser Tragikomödie lauten. Sie stammt von den beiden preisgekrönten iranischen Regisseuren und Drehbuchautoren Ali Asgari und Alireza Khatami. Asgari und Khatami präsentieren mit „Irdische Verse“ ein bewusst überzeichnetes, aber dennoch im Kern treffendes Werk, das den alltäglichen Irrsinn behördlicher Willkür treffend aufzeigt. Dafür bedienen sie sich einer gehörigen Portion schwarzen Humors.
Formal und konzeptionell ist der Film minimalistisch gehalten. In statischen Einstellungen und ohne Perspektivwechsel sehen wir immer nur die jeweilige Person bei ihrem Amtsbesuch. Die Kamera ist streng auf sie oder ihn gerichtet, der Beamte hinter dem Schreibtisch bleibt unsichtbar. Die einzelnen Episoden führen ins Verkehrsamt, Kulturamt, mitten hinein in ein Bewerbungsgespräch, zum Bürger- sowie Arbeitsamt und in eine Schule. Dort bekommt ein Mädchen Ärger mit der gestrengen, unnachgiebigen Schuldirektorin, weil sie mit einem Jungen zusammen Motorrad gefahren ist. Und der Verdacht besteht, er könnte ihr Freund sein.
Überall wähnen die autoritären Amts- und Behördenmitarbeiter einen gezielten Affront gegen die islamisch-iranische Welt oder fühlen sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Penibel und überzogen exakt halten sie sich an die fragwürdigen Vorgaben und Vorschriften. Da reicht es schon, wenn eine unbescholtene Person, die einfach nur ihren Führerschein abholen möchte, ein harmloses Mickey-Mouse-Shirt trägt. An anderer Stelle verweigert ein Verwaltungsangestellter einem Vater den Wunschnamen („David“) für das neugeborene Baby – weil ihm dieser nicht islamisch genug ist.
Die Botschaften von „Irdische Verse“ lassen sich überdeutlich aus den Zeilen und Zwischentönen herauslesen. Die Politik (du damit die Religion) mischt sich überall ein, auch ins Intimste ihrer Bürger. Kann ich nicht einmal in der eigenen Wohnung privat und für mich sein? So heißt es in der Frage eines „Behördenopfers“ sinngemäß. Die brutale, aber ehrliche Antwort muss wohl lauten: vermutlich nein. Der Film zeigt konsequent und fast unentwegt politisch motivierte Herabwürdigung und Kontrollmacht auf. Es geht um Behördenstrenge und einen abschätzigen, bisweilen gar sexistischen oder erpresserischen Umgang mit Menschen, die lediglich einfache Anliegen haben und Hilfe benötigen. Ihnen gegenüber steht ein übermächtiger Verwaltungsapparat, der die Vorgaben der Regierung rigoros ausführt.
Ganz am Ende aber fällt, im wahrsten Wortsinn, das gesamte Konstrukt allerdings in sich zusammen. Und „Irdische Verse“ entlarvt einige der behördlichen Protagonisten mit Vehemenz und grimmigem Humor als Lügner und hemmungslose Zyniker.

Björn Schneider