Kind, Das (L’Enfant)

Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Buch: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Kamera: Alain Marcoen
Schnitt: Marie-Hélène Dozo
Darsteller: Jérémie Renier (Bruno), Déborah Francois (Sonia), Fabrizio Rongione (Kumpel), Olivier Gourmet, Jérémie Segard
Frankreich, 2005, 95 Minuten, Format 1:1,85
Verleih: Kinowelt
Kinostart: 17. November 2005

Ein junger Mann, der das kleine Baby seiner Freundin verkauft. Eine verabscheuungswürdigere Tat ist kaum vorstellbar, und doch entwickelt man für Bruno, Held des neuesten, mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Films der Gebrüder Dardenne, eine merkwürdige Empathie. Das Kind ist eine streng gefilmte, ausgezeichnet beobachtete Sozialstudie, die nicht über ihre Figuren urteilt, sondern sie als Teil der Gesellschaft begreift.

Ihren großen Durchbruch erlebten die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne vor sechs Jahren, als sie für Rosetta ebenfalls mit der Goldenen Palme für den besten Film ausgezeichnet wurden. Schon damals war ihre Herkunft vom Dokumentarfilm unübersehbar, ihr Interesse an bloßen Beobachtungen, einer mobilen Handkamera, die die Figuren, damals das junge Mädchen Rosetta, ganz nahe, meist von hinten bei alltäglichen Tätigkeiten beobachtete. Diese Unmittelbarkeit der Bilder erzeugte einen Realismus, eine Anteilnahme an einem „echten“ Leben, wie man ihn im Kino nur selten erlebt. Mit ihrem nächsten Film Der Sohn verließen sie den eingeschlagenen Weg zumindest narrativ und benutzen die realistische Kamera, für eine oft übermäßig und unglaubwürdig konstruierte Geschichte. Ihr jüngster Film Das Kind wiederum steht in etwa zwischen diesen beiden Polen. Die Kamera ist zwar noch mobil, bleibt aber des Öfteren auf Distanz, sitzt den Figuren nicht mehr ganz so dicht im Nacken wie in früheren Filmen der Dardennes. Und die Geschichte ist zwar mehr von klassischen Plot-Points und einer klaren Struktur bestimmt als Rosetta, aber in der Darstellung des sozialen Umfeldes der Figuren glaubwürdig genug, um als realistische Sozialstudie durchzugehen.

Am Anfang des Films holt Bruno (Jérémie Renier), etwa 22 Jahre alt, seine Freundin Sonia (Déborah Francois) aus dem Krankenhaus ab. Sonia hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, vermutlich ist es Brunos, doch der zeigt rein gar kein Interesse an dem Neugeborenen. Und mit dieser Nachlässigkeit geht es weiter: Die gemeinsame Wohnung hat Bruno vermietet, Geld gibt er planlos aus, es mit geregelter, ehrlicher Arbeit zu verdienen kommt für ihn nicht in Frage. Wenn er etwas braucht, nimmt er es sich einfach, und Geld, Geld kann man sich immer irgendwo besorgen. Und so kommt es wie es kommen muss: Aus einer Laune heraus verkauft er das Baby an eine angebliche Adoptionsfirma. So wie er nie über etwas nachdenkt, so glaubt er auch jetzt nicht, dass Sonia etwas gegen seine Entscheidung haben wird, man könnte ja einfach ein neues Kind machen sagt er ihr und zeigt ihr das Bündel Euro-Scheine, dass das Überleben für die nächsten Wochen sicherstellen soll. Selbst als Sonia zusammenbricht und droht, der Polizei die Wahrheit zu erzählen, scheint Bruno völlig unberührt. Genauso emotionslos wie er das Kind verkauft hat, setzt er jetzt alles daran es zurück zu bekommen, ohne sich über die Reaktion der kriminellen Käufer Gedanken zu machen.

Schwer zu glauben, dass man Bruno bei alldem nicht vollkommen verachtet, doch genau darin liegt die Klasse dieses Films. Denn Bruno wird nicht als schlechter Mensch gezeichnet, der aus kaltem, berechnendem Egoismus handelt, sondern einfach als völlig gedankenloser junger Mann, der nicht über die Folgen seiner Tat nachdenkt sondern spontan und unüberlegt handelt wie, genau, ein Kind. Und das wird im Verlauf des Films immer deutlicher: Das Kind des Titels (Der Originaltitel L’Enfant macht diese Mehrdeutigkeit noch offensichtlicher) ist nicht unbedingt das Baby, sondern Bruno, der zwar seinem Alter nach erwachsen ist, im Geiste aber noch infantil wie ein 12-jähriger agiert. Man könnte sagen, dass die Dardennes Bruno ebenso teilnahmslos zusehen wie er agiert, doch die Emotion der Situation entsteht subtiler. So falsch Brunos Entscheidungen auch sind, so gedankenlos er anmutet, egal ist er dem Zuschauer nie, zumal er eigentlich, das wird in vielen Situationen deutlich, kein schlechter Mensch ist. Stattdessen entwickelt sich ein bemerkenswertes Maß an Empathie für die Situation eines Menschen aus der Unterschicht, der abseits der normalen gesellschaftlichen Konventionen lebt, der die Regeln der Gesellschaft ignoriert, der nicht gelernt hat sich sozial und verantwortungsbewusst zu verhalten.

Michael Meyns