Liebe, D-Mark und Tod – Ask, Mark ve Ölüm

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Ein sehr unterhaltsamer, toll recherchierter Film mit einem bittersüßen Beigeschmack: Es geht um die vielfältige Musikkultur von türkischstämmigen Migranten in Deutschland, die sich in den letzten 60 Jahren – und weitgehend unbeachtet von der deutschen Bevölkerung – entwickelt und ständig verändert hat.
Cem Kaya ist es gelungen, für seinen sehr dichten und sehr musikalischen Film eine Unmenge von Musikerinnen und Musikern vor die Kamera zu holen und ihre Werke zu präsentieren. Vom Protestsong bis zum Schlager, vom Chanson bis zum Hard Rock ist alles dabei – ein sehr sehenswertes Kaleidoskop, das im besten Sinne des Wortes zum Nachdenken anregt.

Deutschland 2022
Regie, Drehbuch und Montage: Cem Kaya
Co-Autor Drehbuch: Mehmet Akif Büyükatalay
Kamera: Cem Kaya, Mahmoud Belakhel, Julius Dommer, Christian Kochmann

Länge: 96 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 29. September 2022

FILMKRITIK:

Zum Start erzählt der türkisch-deutsche Musiker İsmet Topçu auf deutsch und türkisch von seiner Vision: Auf Einladung der Nasa spielt er Gitarre auf dem Mond, eingehüllt in einen Raumanzug und vor sich die Erde. Dazu präsentiert er ebenso virtuos wie beiläufig ein paar kleine Solos auf seiner elektronisch verstärkten Saz, er grinst und freut sich. Mit dem letzten Pling der Gitarre geht das Licht aus und der Vorspann beginnt: bunt und poppig, unterlegt von wilder türkischer Musik, mit Bildern einer Hochzeit dazu – die passgenaue Einleitung in einen Dokumentarfilm über ein ganz besonderes Thema: die Geschichte der Musik türkischer Migranten in Deutschland. Von den Anfängen um 1960 bis heute haben die „Gastarbeiter“ hier Musik gemacht, zunächst für sich selbst und im kleinen Kreis. Dabei entstanden Chansons voller Wehmut und Melancholie, die von Einsamkeit und Heimweh erzählten, fast immer in türkischer Sprache. Es dauerte nicht lange, und diese Musik wurde als Wirtschaftszweig entdeckt. Zunächst wurden die Songs auf Schallplatten veröffentlicht, doch bald wurde die Musikkassette zum passenden Medium: klein, handlich, strapazierfähig und – nicht zu vergessen – auf langen Bus- und Autofahrten in die Heimat abspielbar, verbreitete sich die in Deutschland entstandene Musik schnell auch in der Türkei. Die deutsche Bevölkerung bekam davon sehr wenig mit. Zum einen gab es zu Beginn der Einwanderungswelle nur wenig Kontakte zu den Einheimischen, und zum anderen wurden diese Tonkassetten nicht über Plattenläden und die Musikabteilungen von Kaufhäusern verbreitet, sondern sie wurden in türkischen Läden, im Lebensmittel- und Einzelhandel, und innerhalb der Community verkauft. Ein überraschendes Detail: Als viele Jahre später eine türkischstämmige Band Autogrammstunden in einem Schallplattengeschäft gab, erschienen Hunderte und Tausende von Kids, die sich einfach die Platten nahmen, weil sie dachten, dass sie gratis waren, und sie unterschreiben ließen – sie waren ja zur Autogrammstunde eingeladen. So etwas kannten die meisten ebenso wenig wie Plattenläden, und der Musiker berichtet, dass die Band seinerzeit alle Schallplatten selbst bezahlt hat, um die Jugendlichen auszulösen. Schon in den 60er Jahren und mit der Entstehung von türkischen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern sowie Musikproduktionen, die Türküola oder Türkofon hießen, gab es die ersten Stars, die ihren Ruhm der Verbreitung in Deutschland verdankten. Das Zentrum der Aktivitäten war zunächst Köln – sicherlich wegen der Ford-Werke, die mit als erste türkische Gastarbeiter anwarben. Die Sängerin Yüksel Ökzalap, genannt „Die Nachtigall von Köln“ war einer dieser Stars. Erst später wurde West-Berlin zum Mittelpunkt der deutsch-türkischen Musikszene.

Cem Kayas musikalische Reise durch die Jahrzehnte ist nicht nur sehr unterhaltsam, sondern auch hochgradig informativ. Er zeigt in raren Filmausschnitten die Anfänge: die Warteschlangen in der Türkei für die Anwerbung von Industriearbeitern, die Hoffnungen von jungen Männern, die keine Ahnung hatten, was sie erwartete. Von Abenteuerlust und von der Verehrung der Deutschen Mark geleitet, machten sie sich auf die Reise. Viele wurden enttäuscht. Sie kamen in ein Land, dessen Sprache sie nicht beherrschten, wo sie wie moderne Sklaven in Massenunterkünften untergebracht waren und keinen Kontakt zur Bevölkerung hatten. So entwickelte sich eine eigene Kultur, die durch die weit verbreitete Ausländerfeindlichkeit noch mehr Zulauf bekam. Cem Kaya stellt einige der Stars aus der damaligen und heutigen Musikszene vor, und er spielt ihre Musik, wobei die türkischen Texte übersetzt werden. Es gab Protestsongs, Schlager und Cem Karaca – den türkischen Tom Jones – und viele andere. In den 70ern entstand der „Anadolu-Rock“. Mit der zweiten Generation der Migranten folgten weitere Entwicklungen innerhalb der türkisch-deutschen Community: deutschsprachige Rockbands und Deutsche, die Türkisch sangen. Dazu liefert Cem Kaya kleine und große Geschichten, jede einzelne ist einen eigenen Film wert. Er spricht mit alten und jungen Fans, vor allem aber mit den Musikern selbst. Cem Kayas Film ist so etwas wie ein sehr musikalisches Geschichtsbuch, das 60 Jahre Deutschland aus einer nahezu unbekannten Perspektive zeigt. Absolut sehenswert!

 

Gaby Sikorski