Medusa

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Den antiken Mythos der „Medusa“ verlegt Anita Rocha da Silvera in ihre brasilianische Heimat – und verknüpft ihn mit Motiven aus Giallo, Horrorkino und Satira. Das Ergebnis ist ein oft manischer, bunter, brutaler Film über religiösen Wahn, Schönheitsideale und Fanatismus.

Brasilien 2021
Regie & Buch: Anita Rocha da Silveira
Darsteller: Mari Oliveira, Lara Tremouroux, Joana Medeiros, Felipe Frazao, Thiago Fragoso, Bruna Linzmeyer

Länge: 127 Minuten
Verleih: drop-out Cinema
Kinostart: 1. Dezember 2022

FILMKRITIK:

Mit leblosen, strahlend weißen Masken bekleidet ziehen sie durch die Straßen: Eine Gruppe von acht jungen Frauen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit allen Mitteln für Sittlichkeit und Moral zu kämpfen. Treffen sie auf eine Frau, die es wagt, Nachts alleine auf der Straße zu sein, verprügelt die Gang sie, hält die Gewalt mit dem Handy fest und beschimpft das Opfer als Schlampe, die es verdient, ans Kreuz geschlagen zu werden.

Eine der selbsternannten Rächerinnen von Moral und Anstand ist Mariana (Mari Oliveira), eigentlich ein ganz normaler Teenager, außer das sie Mitglied einer strengreligiösen Freikirche ist. Zusammen mit Michele (Lara Tremoureoux) treten Mariana und die anderen Mädchen dort auf, singen im Chor züchtige Popsongs und lauschen den Worten des Pastors Guilherme (Thiago Fragoso), der seine Schäfchen zu Anstand und Züchtigkeit anhält. Und das bedeutet für die Teenager: Außen möglichst glatt und makellos erscheinen, denn ein schöner Schein bedeutet auch ein schönes Inneres.

Doch dann wird Mariana selbst Opfer eines Überfalls und hat fortan eine lange Narbe auf der Wange. Ihren Job in einer Schönheitsklinik verliert sie postwendend, zu verstörend sei ihr Anblick für die Kundschaft, der es nach makelloser Schönheit verlangt. Und auch ihre Rolle in Chor und Vigilantengruppe beginnt sich zu verändern: Zunehmend entdeckt Mariana die Lust an Abgründen, an Sex und Begierde.

Als Reaktion auf moderne Entwicklungen in Brasilien will Anita Rocha da Silveira ihren zweiten Spielfilm verstanden wissen, der im letzten Jahr seine Premiere in der Cannes-Nebenreihe Quinzaine des Réalisateurs feierte. Nicht erst seit der Wahl Jair Bolsonaro zum Präsidenten, erstarkte in dem südamerikanischen Land der religiöse Konservatismus, gepaart mit zunehmenden Vorurteilen gegen Fremde und Andersdenkende. Nimmt man dazu die Mischung aus sexueller Freizügigkeit, die sich besonders zur Zeit des Karnevals Bahn bricht und konservativen Werten, dann wird daraus schnell ein Pulverfass, dass allzu leicht explodieren kann.

Weit muss man da nicht weiterdenken, um zur leicht dystopisch anmutenden Welt zu kommen, die da Silveira in „Medusa“ schildert: In quasi militärischen Einheiten patrouillieren junge Männer die Straßen, beklagen sich bei den Frauen für ihre sexuelle Lust, während die Frauen ihre Jungfräulichkeit als höchstes Gut bis aufs Blut verteidigen.

In seinem Exzess, denn flirrenden, oft von neonfarben geprägten Bildern, dem Blut, dem Sex und der Gewalt, aber auch der deutlich Kritik an überdrehten Männlichkeits- und Körperphantasien erinnert „Medusa“ an den letztjährigen Cannes-Gewinner „Titane.“ Und auch die eher assoziative als lineare Erzählweise lässt an Julia Ducournaus Film denken, der weniger als Ganzes überzeugte, als durch seine überbordenden Einzelteile. Ähnlich funktioniert auch „Medusa“, der nach etwas überlangen 127 Minuten zu einem bedingt runden Ende findet, nicht ohne zuvor eine oft mitreißende, eklektische Spur der Verwüstung hinterlassen zu haben.

 

Michael Meyns