Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt

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Beim ersten Lockdown vor einem Jahr strandet Regisseur Andrea Segre im verlassenen Venedig. Er ist gerade für Dreharbeiten in der Luganenstadt als sie sich schlagartig verändert: keine Touristen, ein leerer Canale Grande und auf der Piazza San Marco sind nur noch die Schreie der Möwen zu hören. Er sammelt visuelle Notizen, Geschichten und Begegnungen mit Venezianern. Sie erzählen von der fragilen Beziehung zwischen Stadt und Wasser. Gleichzeitig beginnt er eine Recherche, die ihn nicht nur in die Vergangenheit der Stadt führt. Denn der 45jährige arbeitet auch die Geschichte seiner Familie auf, speziell die komplizierte Beziehung zu seinem Vater Ulderico. Genial mischt er seine Aufnahmen mit dem Super-8-Material seines verstorbenen Vaters, der als Wissenschaftler und Chemiker einst dort arbeitete Seine Erzählerstimme und die Musik von Teho Teardo begleiten die einzigartigen Bilder des melancholisch verzauberten Venedigs. Eine dokumentarische Filmperle.

Website: www.filmkinotext.de

Italien, 2020
Regie und Buch: Andrea Segre
Darsteller: Ulderico Segre, Giuliano Segre, Uberto Segre, Anna Pagliero, Mauro Stoppa, Boris Borella, Luigi Divari, Elena Almansi, u.a.
Länge: 68 Minuten
Verleih: Film Kino Text, Vertrieb: Filmagentinnen
Kinostart: 30.12.2021

FILMKRITIK:

„Die Wellen sind nicht mehr da“, wundert sich Gondoliere Elena überrascht. Kein einziges Boot rudert gerade auf der Giudecca, der größten Wasserstraße von Venedig. „Ein Anblick, den es wahrscheinlich mehr als tausend Jahre nicht gegeben hat“, stellt sie fest. Und gleichzeitig wird ihr klar, dass der Seegang kein natürlicher ist, an den sie sich so gewöhnt hat. Er stammt nicht vom Meer, sondern von den vielen Schiffen, die den ganzen Tag die Wasserstraßen durchpflügen.

Auf dem leeren Markusplatz gellen die Schreie der Möwen. Ein Frau singt die Arie der Almirena „Lascia ch'io pianga“ aus Händels Oper Rinaldo. Venedig verharrt im Corona-Stillstand. Wenigstens die Fischer kommen wieder mit vollen Netzen vom Meer zurück. Die Ruhe lässt die Stadt in einem neuen Licht erscheinen. Gleichzeitig erinnern die fehlenden Touristen daran, dass Venedig schon länger als sterbende Stadt gilt. Seit jeher war es freilich ein Ort der engen Beziehung zwischen Tod und Leben.

Bei Thomas Mann kommt dort das Verdrängte an die Oberfläche. Der Künstler Aschenbach, den Dirk Bogarde in Viscontis Verfilmung der Novelle „Tod in Venedig“ spielt, weigert sich beim Ausbruch der Cholera die Stadt zu verlassen. Im Klassiker „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ avanciert die Stadt zum Schauplatz eines unaufhaltsamen Alptraums, der die Grenzen von Realität und Fantasie verschwimmen lässt.

Andrea Segres einmalig poetische Doku ist mehr als ein Corona-Tagebuch. Geschickt spielt der Regisseur mit Super8-Aufnahmen seines Vaters, mischt elegant alte Fotografien von Venedig mit seinen neuen Aufnahmen unterlegt mit Teho Teardos dräuender Musik. Letztlich entsteht eine berückend melancholische Liebeserklärung an den schweigsamen Vater und an Venedig. Der verstorbene Vater, ein Wissenschaftler, studierte Molekülbewegungen und arbeitete als Chemiker in Venedig.

Der Großvater war Jude, die Großmutter nicht. Die Shoa begleitete sie als lebenslanger Schrecken, erzählt Segres Off-Stimme bei seiner Annäherung an die Familiengeschichte. „Während meines ganzen absurden Lebens, das ich gelebt hatte, war über Jahre hinweg ein dunkler Wind von irgendwo tief in meiner Zukunft auf mich zugekommen“. Nicht umsonst beginnt der versierte Filmemacher mit diesem Zitat aus Albert Camus' Roman „Der Fremde“. Der barbarische Zivilisationsbruch des Jahrhunderts hat auch in seiner Biographie Spuren hinterlassen.

Luitgard Koch