Saudi Runaway

Mehr als 1.000 Frauen fliehen pro Jahr aus Saudi-Arabien, weil sie sich nicht länger von ihren Vätern und Ehemännern bzw. vom Staat bevormunden lassen wollen. Eine von ihnen ist Muna, die unter großem persönlichen Einsatz sowohl die Planung als auch die Durchführung ihrer Flucht heimlich und ohne Wissen ihrer Familie mit dem Handy filmt. Mobiltelefone und das Internet haben solche Filme möglich gemacht. Sowohl das Anliegen als auch die ausschließliche Verwendung von authentischem Material wiegen hier die beschränkten technischen Möglichkeiten fast vollständig auf. Solche interessanten und wichtigen Dokumente gehören unbestritten an die Öffentlichkeit. Es wäre zu hoffen, dass der kleine Film mehr als lediglich ein politisch interessiertes Nischenpublikum anspricht.

Webseite: riseandshine-cinema.de

Dokumentarfilm
Deutschland/Schweiz 2019
Regie: Susanne Regina Meures
Kamera: Muna
88 Minuten
Verleih: Rise&Shine Cinema
Start: Herbst 2020

FILMKRITIK:

Um zu erkennen, dass in Saudi-Arabien Menschenrechte verletzt werden, muss man weder Frau noch Feministin sein: Die Liste der Verstöße ist schlicht zu lang – von fehlender Meinungsfreiheit über staatlich verordnete Folter bis zum Vollzug der Todesstrafe. In den letzten Jahren konnten ein paar kleine Fortschritte für saudische Frauen verzeichnet werden, so die Aufhebung des Verbotes, ein Auto zu fahren oder bei Fußballspielen zuzuschauen. Mehrere Spielfilme, aktuell DIE PERFEKTE KANDIDATIN oder zuvor DAS MÄDCHEN WADJDA thematisieren die Situation der Frauen in dem fundamentalistisch islamistischen Königreich. Nun also eine Dokumentation, mit versteckter Kamera und heimlich mit dem Handy gedreht, über die Flucht einer Frau, genannt Muna, aus ihrem Heimatland. Alle Gesichter sind unkenntlich gemacht, so dass neben dem im wahrsten Sinne des Wortes verschleierten Blick der Filmemacherin insgesamt oft ein leicht nebliger Gesamteindruck vorherrscht. Ebenfalls stilgebend sind die Bilder von Fenstern, wobei der Ausblick meistens ziemlich unwichtig ist. Manchmal sind sie vergittert, manchmal nicht, oft sehr schön gestaltet. Doch vor Munas Fenster sitzt auffällig oft ein Vogel – Fenster und Vogel als offenkundige Symbole für die Freiheit, nach der sich Muna so sehr sehnt. Sie ist 26 Jahre alt und lebt bei ihrer Familie. Ihr Vater bestimmt über ihr Leben, ohne seine Genehmigung darf sie weder reisen noch außer Haus arbeiten. Demnächst steht die arrangierte Hochzeit mit einem Fremden an. Als Muna entdeckt, dass ihr Reisepass demnächst abläuft, wird ihr klar, dass sie für eine Flucht nur ein Zeitfenster von wenigen Tagen hat und dass nur die Hochzeitsreise dafür in Frage kommt, weil sie dann mit ihrem Mann im Ausland ist. Parallel zur Hochzeit plant sie ihre Flucht, wobei sie immer wieder von Zweifeln geplagt wird: Kann und darf sie ihre Mutter, die Schwestern und ihren geliebten kleinen Bruder wirklich mit dem Vater zurücklassen, der den Bruder so oft schlägt? Doch Muna ist nicht nur mutig, sondern auch sehr entschlossen. Auf der Hochzeitsreise nach Abu Dhabi gelingt ihr schließlich der letzte Coup: den Reisepass aus der Tasche ihres schlafenden Mannes zu holen.

Muna – der Name ist ein Pseudonym – nahm über das Internet Kontakt zu Susanne Regina Meures auf, die mit RAVING IRAN (2016) über iranische Techno-DJ’s einiges Aufsehen erregte und dafür mit vielen Preisen aufgezeichnet wurde. Auch RAVING IRAN bestand zumindest teilweise aus heimlich mit dem Handy gefilmten Szenen. Muna war bereit, ihre Geschichte mit Susanne Regina Meures zu teilen, sie erhielt vorab ein paar Tipps für die Kameraführung, lud ständig das neue Material hoch und blieb während der gesamten Entstehungszeit des Films in Kontakt mit ihr. Für Muna stellte sowohl der Film als auch die Flucht ein hohes Risiko dar. Wie sich alles entwickeln würde, war bei Beginn der gemeinsamen Arbeit vollkommen unklar. Was sich hier vielleicht sensationell und wagemutig liest, erweist sich jedoch im Film als logische Entwicklung, die erfreulich beiläufig geschieht. Durch die Entstehungsgeschichte und die Machart des Films bedingt, ist Muna selbst am häufigsten zu sehen, meist unverschleiert, weil sie sich selbst in ihrem privaten Umfeld filmt. Dann spricht sie, häufig unter Tränen, über ihre Probleme, sie erklärt ihr Vorgehen, oder sie unterhält sich, während sie sich selbst filmt, mit ihren Schwestern oder ihrem Bruder, die erstaunt feststellen, dass Muna dauernd Selfies macht. Wie es Muna gelingt, die Arbeit an diesem Film tatsächlich geheim zu halten, offenbart ein großes Potenzial an Raffinesse. Merkwürdigerweise bleibt diese mutige Frau ansonsten eher geheimnisvoll als liebenswert. Alles an ihr wird beherrscht vom Gedanken an die Flucht und von den Zweifeln daran, ob sie auf dem richtigen Weg ist. Am Ende wird sie darin bestätigt werden.

Gaby Sikorski