Sebastian springt über Geländer

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Drei Phasen im Leben seiner Hauptfigur beschreibt Ceylan Ataman-Checa in seinem Abschlussfilm „Sebastian springt über Geländer“. Auf den ersten Blick geschieht in den kaum 70 Minuten des penibel in drei Akte unterteilten Film wenig, Ataman-Checa beobachtet, deutet an, erzählt in Auslassungen und fängt so auf überzeugende Weise Momente der Erinnerung und des Aufwachsens ein.

Website: www.dejavu-film.de

Deutschland 2019
Regie & Buch: Ceylan Ataman-Checa
Darsteller: Joseph Peschko, Finn Freyer, Ambar de la Horra, Frederieke Morgenroth, Andreas SigristLänge: 69 Minuten
Verleih: déjà-vu Film
Kinostart: 20. August 2020

FILMKRITIK:

In Hannover wächst Sebastian (Finn Freyer) auf, lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter (Ambar de la Horra), die als Altenpflegerin arbeitet und nicht wirklich für ihren Sohn da ist. Viel Zeit verbringt Sebastian allein, ist durch die Umstände genötigt, früher selbstständig zu werden, als andere Kinder. Nicht unbedingt verwahrlost ist er, aber ein bisschen vernachlässigt; eigenbrötlerisch, ein wenig anders als die anderen Kinder, auch wenn man gar nicht genau definieren könnte warum.
Auch als Teenager (jetzt gespielt von Joseph Peschko) ist er bei den gleichaltrigen seiner Klasse eher dabei, eher Mitläufer, als wirklich integrierter Teil zu sein. Er verliebt sich in Elisabeth (Frederieke Morgenroth), die aus besseren Kreisen kommt. Die Einblicke in eine andere Welt führen Sebastian schmerzlich vor Augen, was er in seinem Leben nicht hat.

Ein Drama könnte Ceylan Ataman-Checas Abschlussfilm an der dffB zu diesem Zeitpunkt werden, doch statt dessen entwickelt sich „Sebastian springt über Geländer“ im dritten Akt zu einem melancholischen, hoffnungsvollen Film. Überraschend kommt das nicht, denn von Anfang an bemüht sich der selbst aus Hannover stammende Ataman-Checa darum, anzudeuten, statt zu sagen, die Dinge zu umkreisen, statt sie überdeutlich auf den Punkt zu bringen.

Eine gewisse Symbolkraft hat zwar natürlich allein schon der Titel, doch auch wenn der junge Sebastian in der ersten Szene des Films tatsächlich über ein Geländer klettert, ist sein Weg zwar nicht gerade, aber auch nicht künstlich erschwert. Weder wird er von seiner Mutter misshandelt, noch ist er in der Schule ein besonderer Außenseiter. Im Umgang mit anderen ist er etwas verstockt und maulfaul, träumt von einer Karriere als Pilot, die eine Illusion bleiben wird.

Das er am Ende, nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr auf eine Reise aufbricht mag man als kleinen Sieg über die Umstände sehen, als Ausbruch aus der Enge seiner Herkunft. Die Hindernisse, die Geländer, die Sebastian auf dem Weg dahin überwinden musste waren nicht groß und spektakulär, sondern vor allem normal und ganz gewöhnlich. In dieser Betonung des normalen, der bloßen Existenz, in der jeder Mensch steckt und seinen Weg suchen muss, erinnert „Sebastian springt über Geländer“ an Richard Linklaters „Boyhood“. Zwei Schauspieler sind es bei Ceylan Ataman-Checa mit denen der Zuschauer Zeit verbringt, die eine Figur spielen, die man beim Aufwachsen, bei der Selbstfindung beobachtet. Ein ganz unspektakulärer Prozess, den Ataman-Checa und sein Kameramann Albrecht von Grünhagen in unprätentiöse, präzise Bilder einfangen. Gefilmt im klassischen 4:3-Format betonen sie die Enge des Aufwachsens in einer eher gesichtslosen Stadt, aus der Sebastian am Ende ausbricht. Ob für immer oder nur für eine gewisse Zeit bleibt offen: In der Erinnerung wird Sebastian fraglos erkennen, das sein bisheriges Leben trotz mancher Hindernisse genau das war, was ihn zu dem gemacht hat der er ist.

Michael Meyns