Sigmund Freud – Freud über Freud

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Enorm viel wurde über Sigmund Freud seit seinem Tod vor über 80 Jahren geschrieben, seine Theorien wurden bewundert und verdammt, oft wirkt der Erfinder der Traumdeutung nur noch wie ein Klischee. Anhand von spektakulärem Archivmaterial nähert sich der französische Dokumentarfilmer in „Sigmund Freud – Freud über Freud“ dem Arzt, aber vor allem dem Vater und Ehemann und bietet eine komplexe, genau recherchierte Einführung in Mann und Werk.

Sigmund Freud, un juif sans Dieu
Frankreich/ Österreich 2020

Regie: David Teboul
Buch: David Teboul & François Prodromidès
Dokumentarfilm

Länge: 97 Minuten
Verleih: Film Kino Text
Kinostart: 5. Mai 2022

FILMKRITIK:

„Jude ohne Gott“ lautet der Untertitel der französischen Originalfassung, ein Titel der in der deutschen Fassung zum unverfänglicheren „Freud über Freud“ verändert wurde. Das Sigmund Freud nicht nur Arzt und Psychoanalytiker war, sondern auch Religionskritiker, das er zwar in eine jüdische Familie geboren wurde, jedoch eher säkular lebte und sich auch deutlich von der Vision des zionistischen Vordenkers, Theodor Herzl, in Palästina einen jüdischen Staat zu gründen, distanzierte, ist weniger bekannt als andere Aspekte seines Lebens.

Auch diesen Aspekt von Sigmund Freuds langem, reichen, komplizierten Leben streift David Teboul, vertieft ihn jedoch nicht, was angesichts einer Länge von kaum mehr als 90 Minuten auch nicht überraschen kann. Zumal Teboul augenscheinlich die Ambition hatte, jeden Moment seiner biographischen Erzählung mit Archivmaterial zu bebildern, wenn möglich solches, das Freud selbst zeigt. Praktisch, das Freud 1856 geboren wurde, also ungefähr zum selben Zeitpunkt, als die Photographie erfunden wurde. Aus Freuds Kindertagen sind zwar verständlicherweise nur wenige Aufnahmen erhalten, doch spätestens mit den ersten großen beruflichen Erfolgen in den 1890er Jahren, den Anfängen der Überlegungen zur Psychoanalyse, wird Freud immer häufiger fotografiert und mit Erfindung der bewegten Bilder 1895 auch gefilmt.

Von Kameramännern, die für Wochenschauen Aufnahmen machen, aber auch im Kreis von Freunden und besonders der Familie. Und die Familie ist ein Aspekt, den David Teboul besonders herausstellt. Besonders Freuds Tochter Anna kommt ausgiebig zu Wort, ihre Briefe an Freud und Andere, werden von Birgit Minichmayr gesprochen, Freud selbst von Johannes Silberschneider. Die Kollage aus Auszügen aus Briefen und Tagebüchern, dazu Auszügen aus Freuds Schriften, wird ergänzt durch zwei Außenperspektiven: Die Freud-Schülerin Lou Andreas-Salomé (gesprochen von Andrea Jonasson) kommt ausgiebig zu Wort, dazu Marie Bonaparte (gesprochen von Catherine Deneuve), die Freud ins Französische übersetzt hat, aber auch eigene psychoanalytische Schriften veröffentlichte.

Ein vielstimmiges Porträt entsteht, eine Kollage an Gedanken und Überlegungen, das von Freuds wissenschaftlichen Theorien, über seine politischen Ansichten, bis hin zum Verhältnis zu seiner Familie kaum etwas auslässt. Analytische Tiefe wird zwar nur sporadisch erreicht, doch als Einführung in Freuds Denken und Wesen funktioniert „Sigmund Freud – Freud über Freud“ ausgezeichnet. Vor allem aber als bemerkenswert reicher Bilderbogen, der wohl selbst für Freud-Kenner kaum bekannte, oft bewegte, Bilder zusammenträgt und die Lücken mit faszinierenden historischen Archivaufnahmen füllt. Was entsteht ist somit mehr als ein Porträt einer der einflussreichsten Figuren seiner Zeit, sondern ein Porträt einer Zeit im Umbruch: Den Jahrhundertwechsel erlebte Freud, den verheerenden Einschnitt des Ersten Weltkriegs, schließlich den Aufkommenden Nationalsozialismus. Vor ihm flüchtete Freud erst 1938 nach London, wo er ein Jahr später starb. Seine Ideen jedoch leben und beeinflussen weiter, wie David Teboul eindrücklich zeigt.

 

Michael Meyns