Stillwater – Gegen jeden Verdacht

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Ein US-amerikanischer Vater reist nach Frankreich, um seine von ihm entfremdete Tochter aus einer schlimmen Lage zu befreien – der denkbar kürzeste Handlungsabriss zu Tom McCarthys neuer Regiearbeit „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ lässt einen rustikalen Selbstjustizthriller im Stile des Liam-Neeson-Reißers „96 Hours“ vermuten. Aktionsbetont und heldenhaft geht es hier allerdings weniger zur Sache. Vielmehr interessiert sich der Anfang Juli 2021 in Cannes uraufgeführte Film für die Schwierigkeiten des zuweilen recht naiv agierenden Protagonisten in einer völlig fremden Umgebung und kehrt seine Charakterschwächen nicht unter den Tisch. Treffend besetzt ist dieser Mann mit Matt Damon, einem Schauspieler, der vor allem eins ausstrahlt: Bodenständigkeit.

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Regisseur: Tom McCarthy
Drehbuch: Tom McCarthy, Marcus Hinchey, Thomas Bidegain, Noé Debré
Darsteller: Matt Damon, Camille Cottin, Lilou Siauvaud, Abigail Breslin, Deanna Dunagan,
Länge: 140 Minuten
Verleih: Universal Pictures Germany
Kinostart: 9.9.2021

FILMKRITIK:

Wer sich vorab nicht informiert hat, wovon „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ im Groben handelt, könnte sich in den ersten Minuten in einem Sozialdrama über die Menschen im Herzen der Vereinigten Staaten wähnen. Dort, wo alte Industriezentren mittlerweile brachliegen. Wo die Globalisierung nicht selten verteufelt wird. Wo Trump auf großen Rückhalt zählen konnte. Wo der viel beschworene amerikanische Traum nur noch eine Illusion zu sein scheint. Einst hatte der Ölbohrarbeiter Bill Baker (Matt Damon) aus der Kleinstadt Stillwater im Bundesstaat Oklahoma regelmäßig Arbeit, verließ seine Familie oft für viele Wochen. Inzwischen hat sich das Blatt jedoch gewendet. Händeringend sucht er nach einer Anstellung in seinem eigentlichen Job. Oft bleiben ihm aber nur Aushilfstätigkeiten, etwa beim Aufräumen einer durch einen Tornado zerstörten Ortschaft.

Bill führt ein denkbar einfaches Leben, bucht allerdings – das ist die erste kleine Überraschung – einen Flug nach Marseille. Ein Trip, den er schon mehrmals unternommen haben muss. An der Rezeption seines Hotels begrüßt man ihn nämlich wie einen Rückkehrer. Grund seines Besuchs in der pulsierenden Hafenstadt am Mittelmeer ist seine Tochter Allison (Abigail Breslin), die während ihres Auslandsstudiums ihre Mitbewohnerin und Liebhaberin Lina ermordet haben soll. Seit fünf Jahren sitzt sie nun schon im Gefängnis, obwohl sie bis heute die Tat bestreitet. Bei ihrem ersten Treffen auf Bills aktueller Reise steckt sie ihrem Vater einen Brief zu mit der Bitte, ihn so schnell wie möglich an ihre Anwältin Leparq (Anne Le Ny) zu übergeben. Ein neuer Hinweis könnte für ihre Entlastung und die Wiederaufnahme des Verfahrens sorgen.

Bill tut, wie ihm befohlen, steht aber plötzlich vor einem Dilemma. Denn die Strafverteidigerin hält die Indizien für unzureichend und beschließt, nichts zu tun. Felsenfest von Allisons Unschuld überzeugt, will der US-Amerikaner daraufhin eigene Nachforschungen anstellen und bekommt Unterstützung von seiner sympathischen Hotelbekanntschaft Virginie (Camille Cottin), die ihre kleine Tochter Maya (Lilou Siauvaud) alleine großzieht. Aus Sorge, alle Hoffnungen zu zerstören, verheimlicht Bill Allison Leparqs Entscheidung.

Wo Filme wie der eingangs erwähnte Actionthriller „96 Hours“ binnen kurzer Zeit eine Ein-Mann-Armee ins Rollen bringen, die alles niedermäht, was irgendwie im Weg steht, bemüht sich „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ erst einmal, die Hilflosigkeit der Hauptfigur zu betonen. Bill versteht kein Französisch, ist auf Virginies Sprachkenntnisse angewiesen, um seine Suche überhaupt starten zu können, und legt mehrfach eine Platz-da-hier-komme-ich-Mentalität an den Tag, wie sie für einige Amerikaner typisch ist. Statt sich mit der Kultur und der Umgebung, in der er sich bewegt, genauer zu befassen, soll es schnellstmöglich zum Ziel gehen. An einer Stelle ist er sogar bereit, mit einem offenkundigen Rassisten zu sprechen, der einfach irgendeinen jungen arabischstämmigen Mann als Täter belasten will. Bills selbstgerechte Haltung kritisiert Virginie in diesem Moment scharf und spricht das aus, was sich wohl auch viele Zuschauer*innen denken dürften – selbst wenn man seinen Schmerz nachvollziehen kann.

Bill ist kein Liam-Neeson-Verschnitt, aber ebenso wenig ein Unschuldslamm. Egal, wie liebevoll er sich auch um Maya kümmern mag, das Drehbuch erinnert uns wiederholt daran, dass er Allison früher oft enttäuscht hat, seine Emotionen nicht immer kontrollieren konnte und gegen Suchtprobleme ankämpfen musste. Gerade die alten Versäumnisse und Fehler sind es womöglich, die ihn nun antreiben.

Nicht nur Actionakzente sind rar gesät. Auch handfeste Spannungsszenen gibt es keineswegs am laufenden Band. Besonders im Mittelteil nimmt sich der Film Zeit für Alltagsbeobachtungen und einen Blick auf das wachsende Vertrauen zwischen Bill, Virginie und Maya – wobei McCarthy und seine Koautoren in einem Punkt etwas ins Klischeehafte abdriften. Erfreulich ist es hingegen, dass die moralischen Ambivalenzen der Erzählung bis zum Schlussbild durchgehalten werden. Die letzte halbe Stunde fühlt sich im Vergleich zu den vorangegangenen Ereignissen jedoch etwas unfertig und gehetzt an. Der Moment des großen Umschwungs ist ein Paradebeispiel für unglaubliche Drehbuchzufälle und führt zu finalen Entwicklungen, die dem Publikum einiges an Wohlwollen abverlangen.

Wen der Plot übrigens entfernt an den Mordfall Meredith Kercher erinnert, der die US-Amerikanerin Amanda Knox ab 2007 weltweit in die Schlagzeilen brachte, liegt nicht verkehrt. McCarthy selbst erwähnte, etwa gegenüber dem US-Magazin Vanity Fair, die junge Frau als Inspirationsquelle seines Films, was Knox zu einigen kritischen Statements veranlasste. Rund vier Jahre saß die heutige Journalistin nach der brutalen Tötung ihrer Mitbewohnerin Kercher in Perugia in einem italienischen Gefängnis, wurde 2015 dann aber letztinstanzlich von allen Vorwürfen freigesprochen. „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ ist sicherlich ein fiktionales Werk, das von den wahren Begebenheiten stark abweicht und mit der Vaterfigur einen anderen Fokus setzt. Gänzlich von der Hand weisen lässt sich Knox‘ Einwurf, ihre Geschichte werde zu Unterhaltungszwecken missbraucht, allerdings nicht. Schließlich scheuten die Verantwortlichen bei Presse- und Promotionsterminen nicht davor zurück, mit ihrem Namen und ihren Erfahrungen Werbung für den Film zu betreiben.

Christopher Diekhaus