Sundown – Geheimnisse in Acapulco

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In „New Order“ sezierte der mexikanische Regisseur Michel Franco die korrupte High Society seines Heimatlands, wofür er bei den Filmfestspielen von Venedig den Silbernen Löwen erhielt. Francos siebter Film „Sundown“ wurde ebenfalls im Wettbewerb auf dem Lido uraufgeführt. Das atmosphärische Drama mit Thriller-Anteilen ist Charakterschau und Milieuschilderung gleichermaßen – Tim Roth („The Hateful Eight“) brilliert als gestrandeter Acapulco-Tourist.

Website: www.24-bilder.de/filmdetail.php?id=903

Mexiko/Schweden/Frankreich 2021
Regie & Drehbuch: Michel Franco
Darsteller: Tim Roth, Iazua Larios, Charlotte Gainsbourg, Samuel Bottomley, Albertine Kotting McMillan, Henry Goodman, Mónica Del Carmen

Laufzeit: 82 Min.
Verleih: Ascot Elite/24 Bilder
Kinostart: 9. Juni 2022

FILMKRITIK:

Gefangene Fische schnappen nach Luft, der von Tim Roth gespielte Neil Bennett starrt sie an. Müde wirkt er, innerlich abwesend. Die kurze Eröffnungssequenz wirft die Frage auf, um deren Enträtselung es fortan geht: Was geht in diesem Mann vor?

„Sundown“ trägt den herrlich schmissigen Zusatztitel „Geheimnisse in Acapulco“, was den rätselhaften Film treffend beschreibt. Der Auteur Michel Franco erweist sich als Meister geschickter Informationsverteilung. Das Publikum arbeitet sich an der eigenen Erwartungshaltung ab, bis es gegen Ende Hinweise erhält. Es ist heikel, den Film zu beschreiben, will man das Erlebnis nicht ruinieren. Der Protagonist Neil ist ein weißes Blatt, wenn er die Fische anstarrt – erst nach und nach klärt sich der Hintergrund.

Nur so viel: Familie Bennett aus London residiert in einem Luxusressort in Acapulco. Neil und Alice (Charlotte Gainsbourg), Colin und Alexa. Longdrinks am Pool. Als Alice vom Tod ihrer Mutter erfährt, brechen die Bennetts den Aufenthalt ab. Am Flughafen behauptet Neil, seinen Reisepass im Hotel vergessen zu haben. Er will den nächsten Flieger nehmen, checkt aber in einer billigen Herberge ein, ignoriert die Anrufe aus London, trinkt Bier am Strand, bändelt mit Berenice (Iazua Larios) an. Bis Alice ihn konfrontiert: „What the fuck is wrong with you?“

Tim Roth trägt den stark figurengetriebenen Film. Der Charaktermime braucht nicht viele Worte oder Gesten, als deutungsoffene Projektionsfläche strahlt er alles und nichts aus. Vielleicht trauert er, vielleicht ist er vom Gefühl schierer Bedeutungslosigkeit ermattet. Michel Franco hat die Arbeit am Film „in einer tiefen, persönlichen Krise“ begonnen. Beiläufig schildert er die Klassenunterschiede in seiner Heimat. Arm und Reich klaffen im heißen Pflaster Acapulco weit auseinander: Den Privatpool im Ressort und den innerstädtischen Badestrand trennen Welten. Franco inszeniert die Beobachtungen so prägnant, dass ein kurzer Seitenblick des Taxifahrers auf die teure Einrichtung alles sagt.

Überhaupt lebt das faszinierende Thrillerdrama von der Intensität des Dabeiseins, wozu die plastischen Bilder des Kameramanns Yves Cape („Holy Motors“) wesentlich beitragen. Die flirrende Atmosphäre von „Sundown“ schlägt in den Bann: Man riecht Sonnencreme, sieht Sex, Geld, Gewalt, hört Flaschen klirren. Tim Roth sitzt in Shorts und Sandalen im Plastiksessel. Woran denkt er?

Christian Horn