Sweet Disaster

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So verspielt und schwungvoll hat schon lange niemand mehr von treulosen Männern und sitzengelassenen Schwangeren erzählt. Laura Lehmus schlägt in ihrem Spielfilmdebüt einen vergnügten Grundton an, der den darin versteckten Moll-Akkord elegant überspielt. Mit Animationen und surrealen Einfällen verzaubert sie das Publikum, ohne in artistische Spielereien abzugleiten. Die reale Lage allein erziehender Frauen bleibt stets präsent.

Website: www.mfa-film.de

Deutschland 2021
Regie: Laura Lehmus
Drehbuch: Ruth Toma
Darsteller: Friederike Kempter, Lena Urzendowsky, Florian Lukas
Länge: 93 Minuten
Verleih: MFA+
Kinostart: 11.08.22

FILMKRITIK:

Girl meets Boy. Flirt, kleine Neckereien, der erste Kuss. So weit, so bekannt. Aber was ist das? Ein Papierflieger segelt durchs Bild, gefolgt von gebastelten Wolken, auf denen ausgeschnittene Bäume wachsen. Daneben Fotos von dem Paar, das erst noch eins werden will. Hoffnungen, Träume, Visionen? Oder vielleicht Seifenblasen? Zumindest rast der Flieger durch einen der Luftballons, die die Wolken in der Schwebe halten. Dann Schnitt und alles geht ganz schnell. Zurück in der Realität einer vom Baulärm erschütterten Wohnung blickt die Kamera auf einen positiven Schwangerschaftstest. Ein Blick in den Raum - schon sind die Wölkchen wieder da, gefolgt von einem Kinderbettchen, das aus dem Nichts erscheint und sich genauso übergangslos wieder in dasselbe auflöst.

Auf Surreales muss man sich gefasst machen im Spielfilmdebüt von Laura Lehmus, die zuvor mit kurzen Trickfilmen und als Artdirektorin auf sich aufmerksam gemacht hat. Denn in der Welt von Frida (Friederike Kempter) steht alles Kopf. Auf dem Heimweg vom Familienbesuch in Finnland trifft sie am Flughafen den Piloten Felix (Florian Lucas). Der bläst Trübsal, weil seine Freundin Natalie (Diana Ebert) eine Pause will und nach Boston entschwindet. Deshalb kann er Fridas Trost gut gebrauchen.

Ein paar Monate sind Felix und Frida ein Paar, dann kehrt Natalie vorzeitig nach Berlin zurück – und Felix zu ihr, Vaterschaft hin oder her. Aber damit ist das Chaos nicht komplett, denn eine späte Schwangerschaft (Frida ist 40) kann alle möglichen Komplikationen mit sich bringen. Der hohe Blutdruck ist da noch das kleinste Übel. Die Ärztin legt die Stirn in Sorgenfalten, spricht von Syndromen mit schwer zu merkenden lateinischen Namen und empfiehlt vor allem eins: „Stress vermeiden“. Ratschläge sind auch Schläge.

Frida mag sich einsam fühlen als allein erziehende Mutter in spe, fern von den Verwandten in Finnland. Aber ohne Unterstützung bleibt die quirlige Erzieherin mit ihren bunten Pullovern und Strumpfhosen nicht. Wie in einer Märchenwelt taucht das 15jährige Nachbarmädchen Yolanda (Lena Urzendowsky) auf: eine hochbegabte Erfinderin, die ihre fantasievoll umgebauten Drohnen auch mal zu Spionagezwecken ausleiht. Und dann gibt es noch die Karten spielenden Omas aus einer Kirchengruppe, die Frida vor den schlimmsten Konsequenzen zahlreicher Dummheiten bewahren. Denn die sitzen gelassene Schwangere will sich mit ihrem Schicksal keineswegs abfinden. Sie tut alles, um Felix zurückzuerobern und ihre Konkurrentin in den Wahnsinn zu treiben. Das entwickelt sich zu einem Kampf mit ziemlich lustigen und kreativen, aber nicht immer legitimen Mitteln.

Regisseurin Laura Lehmus hat sich den doppelten Schock – verlassen werden und unerwartet schwanger sein – nicht ausgedacht. Die grundlegenden Ideen für das Drehbuch von Ruth Toma stammen von ihr und sind biografischen Ursprungs. Aber sie erzählt das Erlebte nicht als Tragödie, sondern als Dramödie mit humorvollem, verspieltem Schwung. So lässt sie ihre Hauptfigur alternative Varianten der Wirklichkeit erträumen, herbeisehen und erleben – mit kindlicher Lust an der Überspitzung und einem beherzten Griff in die Trickkiste der Animation, in die farbenfrohe Palette der Ausstattung und in die kameratechnischen Möglichkeiten, Reales futuristisch entrückt oder magisch verzaubert erscheinen zu lassen. Das macht gute Laune und ist keineswegs bloß artistische Spielerei. Ein Baby, so hat Laura Lehmus es erlebt, ist nun wirklich kein Grund zum Weinen.

Peter Gutting