The Case You

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Hunderte Jugendliche und junge Frauen nahmen vor Jahren für eine Filmproduktion an einem Casting teil, das ihr Leben verändern sollte. Denn der Regisseur nutzte es schamlos aus, dass die Teilnehmerinnen bereit waren alles für die Rolle zu geben. Was folgte waren Übergriffe, sexueller Missbrauch und Diskriminierung. In „The Case You“ wagen sich fünf der Frauen an die Öffentlichkeit und lassen das Erlebte Revue passieren. Die beklemmende, vor allem die Opfer in den Mittelpunkt rückende filmische Rekonstruktion offenbart den systematischen Machtmissbrauch, der immer wieder und vor allem in der Film- und Medienwelt stattfindet

Website: www.mindjazz-pictures.de/filme/the-case-you/

Deutschland 2020
Regie: Alison Kuhn
Länge: 80 Minuten
Verleih: Mindjazz Pictures
Kinostart: 10.03.2022

FILMKRITIK:

In „The Case You“ erzählen fünf junge Frauen, allesamt Schauspielerinnen, ihre Geschichte. Sie sind verbunden durch die Teilnahme an einem Casting vor vier Jahren, bei dem unrechtmäßige Übergriffe, darunter sexueller und gewaltsamer Natur, passierten. In einem sicheren, geschützten Rahmen diskutieren und ergründen sie, was damals geschah und wie sich die Ereignisse auf ihr weiteres Leben auswirkten. Der Dokumentarfilm thematisiert Geschehnisse, die lange nicht bekannt waren. Er zeigt, dass es in der Frage nach sexueller Nötigung keine Grauzone gibt.

Der Film erscheint zu einer Zeit, in der das Schlagwort „MeToo“ in der medialen Berichterstattung bei Weitem nicht mehr so präsent ist wie noch vor drei oder vier Jahren. Damals, auf dem Höhepunkt der gleichnamigen Bewegung, brachen quasi wöchentlich immer mehr Prominente, meist Schauspielerinnen, ihr Schweigen und berichteten von sexueller Nötigung und Missbrauch. Eine Debatte über die Rechte von Frauen, Alltagssexismus und Gleichberechtigung entbrannte.

„The Case You“ beweist, dass man nicht ins weit entferne Hollywood oder an ein berühmtes Theater von Weltrang schauen muss, um von sexuellen Übergriffen im Namen der Kunst zu erfahren. Regisseurin Alison Kuhn rückt in ihrem bedrückenden Mix aus Interviewszenen und (dokumentarisch begleiteter) Aufarbeitung die Opfer ins Zentrum. Mal befragt sie die fünf Frauen in Einzelgesprächen zu den Erlebnissen von damals. Mal tauschen sie sich untereinander aus und nutzen die Bühne des leeren Theatersaals, um die traumatischen Ereignisse gemeinschaftlich zu reflektieren.

Aufgrund der Tatsache, dass „The Case You“ keine Namen nennt, weder den des verantwortlichen Regisseurs von damals noch des geplanten Filmprojekts, richtet sich die komplette Aufmerksamkeit auf die Opfer. Und dem, was sie damals über sich ergehen lassen mussten: Abwertung, Erniedrigung und die radikale Ausnutzung eines Abhängigkeits-verhältnisses durch den Regisseur und einige Mitarbeiter, die während des Castings untätig blieben und die jungen Frauen nicht aus der Situation befreiten.

In einer Szene schildert eines der Opfer jene Ohnmacht und Hilflosigkeit sehr eindringlich. Deutlich wird, wie sie und auch die anderen Befragten, ihre Schilderungen mittels Gesten und nonverbaler Kommunikation unterstützen, um ihren Emotionen und dem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Mit den genau richtigen, jederzeit wohlüberlegten Fragen ergründet Kuhn darüber hinaus den Umgang mit erlebtem Missbrauch und den daran anknüpfenden Verdrängungsmechanismus.

Im weiteren Verlauf erfährt der Zuschauer, dass der Regisseur das Casting mitfilmte und einen eigenen, pseudodokumentarischen Film daraus machte. Die Aufführung auf einem Filmfestival stand bereits fest, konnte gerichtlich jedoch noch abgewendet werden. Nicht nur, dass man die damals vielfach minderjährigen Teilnehmerinnen des Castings im Vorfeld nicht über die Anfertigung von Aufnahmen informierte: All diese Umstände und Fakten verdeutlichen zudem, dass es viele Mitwisser und Vertraute des Regisseurs gab, die ihre schützende Hand über den Filmemacher hielten.

„The Case You“ legt demnach die systematische Diskriminierung und Ausbeutung junger Menschen offen, die aufgrund ihres jungen Alters und der fehlenden beruflichen Erfahrung vielfach gar nicht richtig einordnen und verstehen können, dass die an ihnen verübten Taten schwerste Verbrechen darstellen. Und weder im Namen der Filmkunst und zum Zwecke des künstlerischen Ausdrucks noch als Motivation im Rahmen eines Castings zu rechtfertigen sind.

Björn Schneider