Wege des Lebens – The Roads Not Taken

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Erneut war Sally Potter bei der Berlinale zu Gast, diesmal mit dem Drama „The Roads Not Taken“, in dem Javier Bardem einen Mann spielt, der an Demenz leidet und sich im Geiste vorstellt, wie sein Leben hätte verlaufen können, wenn er anders agiert hätte. Ein strukturell wie so oft bei Potter ambitionierter, diesmal sentimental und pathetisch geratener Film.

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GB 2020
Regie & Buch: Sally Potter
Darsteller: Javier Bardem, Elle Fanning, Selma Hayek, Laura Linney, Branka Katic, Milena Tscharntke
Länge: 85 Minuten
Verleih: Universal
Kinostart: 13. August 2020

FILMKRITIK:

„Regrets, I've had a few“ singt Frank Sinatra in „My Way“, und von der Last des Bedauerns ist der von Javier Bardem gespielte Leo vom ersten Moment des Films an gezeichnet. In einem schäbigen, lauten Appartement in New York lebt er, kommt kaum noch aus dem Bett, starrt katatonisch an die Decke, während die Putzfrau putzt und seine Tochter Molly (Ele Fanning) sich um ihn bemüht.
Ob Leo an Demenz oder einer anderen degenerativen Krankheit leidet wird nicht genau gesagt, sein Zustand ist jedoch eindeutig. Nur schwer kommt Leo aus dem Bett, wird von Molly zu Arztterminen gebracht, bei denen er im besten Fall passiv im Stuhl sitzt, wenn er sich nicht aktiv gegen jede noch so gut gemeinte Behandlung wehrt. Sehr zum Missfallen seiner Tochter reden sowohl die Ärzte, als auch seine Ex-Frau (Laura Linney) mehr über ihn, als mit ihm und fragen sich des öfteren: Ist er da?
Angesichts seines Zustandes eine berechtigte Frage, die auch zum Kern des Films führt: Zu Episoden, die sich in Leos Kopf abspielen, Episoden aus seiner Vergangenheit, die anfangs wie Rückblenden wirken, sich dann jedoch als Fabrikationen seiner Imagination erweisen. Sie sind das, was hätte passieren können, wenn sich Leo an bestimmten Punkten seines Lebens anders entschieden hätte. Wenn er sich etwa nicht von seiner ersten großen Liebe Dolores (Selma Hayek) getrennt hätte, sondern mit ihr in Mexiko geblieben wäre. In einer anderen Variation befindet sich Leo auf einer griechischen Insel, wo er versucht, einen Roman zu Ende zu bringen. Eine junge Touristin fragt er, welches Ende sie bevorzugt: Ein schnelles ist die Antwort, doch das ist Leo nicht vergönnt.
Eine gewisse Tragik hängt über den Ereignissen, die Unausweichlichkeit von Leos Verfall, gepaart mit seiner inneren Welt, die auch nicht viel rosiger wirkt als die Realität. Durchaus kunstvoll verknüpft Potter diese Ebenen, schneidet bewusst unrhytmisch zwischen Imagination und Realität hin und her, zusammengehalten vor allem von Javier Bardems Präsenz. Ganz scheint allerdings auch der große spanische Schauspieler nicht zu wissen, was seine Regisseurin hier vorhat, so beschränkt er sich darauf, mit melancholischem Blick in die Ferne zu starren, zu leiden und zu trauern. Das genaue Gegenteil ist die wie stets sehr lebendige Elle Fanning, die als einzige Figur ein wirkliches Interesse an Leo zu haben scheint. Doch auch sie geht diesmal in Sally Potters Imagination verloren.
Auch wenn man ahnen kann, welche Themen Potter an diesem Projekt reizten, die Frage, inwieweit ein nach außen kaum noch zugänglicher Mensch, im inneren noch lebendig ist, dass das Spiel mit Realität und Imagination eine Fortführung früherer Form-Experimente ist: Trotz seiner nur 85 Minuten Länge ist „The Road Not Taken“ trotz mancher Qualitäten ein überaus zähes Unterfangen.

Michael Meyns