Trübe Wolken

Zum Vergrößern klicken

Experimentieren ist nicht nur das Vorrecht der Jugend, ihres aber besonders. Wenn schon Debütfilme konventionell geraten, was soll dann aus den Regisseuren werden, wenn sie sich einmal etabliert haben? Insofern ist das Langfilmdebüt von Christian Schäfer zu bewundern. Es erzählt über weite Strecken packend von einem Phänomen, das eigentlich gar nicht greifbar ist: der Einsamkeit und der Ungewissheit, was man mit seinem Leben anfangen soll.

Website: www.salzgeber.de/truebewolken

Deutschland 2021
Regie: Christian Schäfer
Darsteller: Jonas Holdenrieder, Devid Striesow, Valerie Stoll, Valentino Fortuzzi
Länge: 104 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: n.n.

FILMKRITIK:

Paul (Jonas Holdenrieder) versteckt ein Messer in der hohlen Hand. Die Kamera zeigt es ganz deutlich, blendet alles andere aus. Der 17-Jährige geht auf Dala (Valerie Stoll) zu, zielsicher und bedrohlich. In Großaufnahme dreht er das Messer, sodass er jetzt zustechen könnte. Schnitt: Nichts davon passiert. Stattdessen schneidet die in Jonas verliebte Dala einen Granatapfel auf. Alles nur Irreführung? Nein, es wäre möglich gewesen in diesem Film, der sich bewusst nicht festlegt. Thriller, Jugendfilm, Familiendrama, Krimi – alles ist in gewisser Weise vorhanden und dann auch wieder nicht.

Dem Film ergeht es wie Paul, seiner Hauptfigur. Der junge Mann agiert zurückhaltend, beobachtend, zögerlich. Was in ihm vorgeht, weiß er möglicherweise selbst nicht. Es könnte alles sein oder auch nichts. Deswegen eignet er sich so gut als Projektionsfigur für alle um ihn herum. Die sehen in ihm einen hochbegabten Gedichteschreiber, so sein Lehrer Erich Bulwer (Devid Striesow), einen Homosexuellen, so sein neuer Mitschüler David (Valentino Fortuzzi) oder einen heterosexuellen Liebhaber, so Dala. Womöglich ist er von allem ein bisschen, aber auch noch ein anderer: ein Introvertierter, der sich für einsame Pfade, verlassene Gebäude und fremde Briefe interessiert. Sicher ist: Paul besucht seinen im Rollstuhl sitzenden Lehrer zu Hause und trifft sich sowohl mit David wie mit Dala. Fest steht ebenso, dass unbekannte Jugendliche Steine von einer Brücke werfen und dass David unter der Brücke tot aufgefunden wurde.

Es ist faszinierend, wie eine Erzählung vom undefinierbaren Zustand der Entfremdung, des vielleicht nicht nur pubertären Suchens einen derartigen Sog ausüben kann. Paul bewegt sich in kunstvoll komponierten Räumen wie ein Tagträumer, losgelöst und schwerelos, wie hinter einem Schleier und manchmal wie umstellt von Spiegeln. Der eingangs zitierte Thrill der Bilder und der Tonspur schaffen eine Atmosphäre, die die Lücken der Erzählung über weite Strecken verdeckt. Genauer gesagt: verdecken muss, damit der Film funktionieren kann. Ganz bewusst nämlich, so erzählt es Regisseur Christian Schäfer, hätten er und sein Drehbuchautor Glenn Büsing gängige Zuschauerfragen offen lassen wollen. Etwa die, ob der Tod Davids ein unglücklicher Unfall war oder Folge einer überlegten Handlung. Oder auch das Rätsel, ob Paul für Dala echte Gefühle hegt.

Dank dem hervorragenden Nachwuchsschauspieler Jonas Holdenrieder reißt die emotionale Einfühlung in eine Art „Junge ohne Eigenschaften“ auch in schwierigen Momenten nicht ab. Und der Mut zum Experiment entführt den Zuschauer in einen Film abseits ausgetretener Pfade. Aber das Erkunden erzählerischen Neulands birgt auch Gefahren. Nämlich das Risiko, Zuschauer zurückzulassen, die sich im Wald der Rätsel verlaufen. Oder die dem Bund einer geistig-kunstsinnigen Elite, wie sie Pauls Lehrer ersehnt, gar nicht erst beitreten wollen.

Peter Gutting