Untimely

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Vor allem stilistisch gelingt dem iranischen Regisseur Pouya Eshtehardi mit „Untimely“ ein bemerkenswertes Debüt, das auf impressionistische Weise in die Vergangenheit blickt. Wie die Geschichte eines jungen Rekruten, der bei einem Unfall seinen Vorgesetzten tötet, sich entfaltet, ist zwar nicht immer nachvollziehbar, die Tragik eines Lebens am Rande der Gesellschaft vermittelt sich jedoch dennoch.

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Iran 2020
Regie & Buch: Pouya Eshtehardi
Darsteller: Iman Afshar, Shayan Afshar, Mahsa Narouyi, Awa Azarpira, Ayoub Afshar,
Danial Mashreghi
Länge: 78 Minuten
Verleih: dé-jà vu Film
Kinostart: 10.03.2022

FILMKRITIK:

Der junge Iraner Hamin (Iman Afshar) verrichtet seinen Militärdienst auf einer Basis am Persischen Golf. Sein Leben ist langweilig und stumpf, auf eine Zigarette zwischendurch kann Hamin selten verzichten – und verstößt damit gegen die Dienstvorschriften. Aus diesem nichtigen Grund wird sein Antrag auf Sonderurlaub abgelehnt, Hamin darf nicht zur Hochzeit seiner Schwester Mahin (Aiwa Azaripa) fahren, seiner einzigen Verwandten.

Statt auf der Hochzeit zu feiern steht Hamin nun auf einem einsamen Wachturm, hoch auf einer geradezu symbolischen steilen Klippe, die den Persischen Golf überblickt. Und natürlich raucht er wieder. Als sein Vorgesetzter die Kippe entdeckt, steht Hamin zusätzlicher Ärger ins Haus, ein Streit entbrennt, an dessen Ende der Vorgesetzte tot unter dem Wachturm liegt.

In einem nahegelegenen Bunker verscharrt Hamin die Leiche und kehrt danach auf seinen Posten zurück. Während er nun wartet, wartet, ob sein Verbrechen entdeckt wird, wartet, dass das unausweichliche passiert, driften seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, in seine Kindheit, zu seiner Schwester, ihrer schweren Kindheit. Fragmente formen sich, zerstückelte Erinnerungen, die nach und nach den Blick auf Hamins Kindheit öffnen, in der er bei einem Händler auf dem Basar arbeitete, Schmuggelfahrten mitmachte, ständig in Sorge um die Schwester, deren einziger Verwandter er ist.

Um reale und eingebildete Schuld geht es im Film des iranischen Regisseurs Pouya Eshtehardi, der mit seinem Debüt eine lange Festivalreise hinter sich hat. Kein Wunder, ist „Untimely“ doch ein Film, der einerseits durch und durch ein iranischer Film ist, andererseits aber auch ein erzählerisch und stilistisch ambitioniertes Werk, das über den oft gesehenen Sozialrealismus des iranischen Kinos hinausgeht.

Inhaltlich verhandelt Pouya Eshtehardi zwar „typisch“ iranische Themen, erzählt vom Gefühl, seiner Familie, hier der Schwester, etwas schuldig zu sein, beschreibt die schwierigen sozialen Verhältnisse des Landes, den Druck, die Zwänge. Doch wie Eshtehardi dies erzählt, vielmehr zeigt, macht seinen Film bemerkenswert.

Nicht in linearer Erzählweise oder in einer langen Rückblende entfalten sich die Ereignisse, sondern in loser, oft sprunghafter Folge. Es sind Erinnerungsfetzen Hamins, die mal kürzer, mal länger, mal klarer, mal rätselhafter wirken und damit auch den Zuschauer immer wieder verwirren. Alle Zusammenhänge zu erfassen dürfte gerade für einen westlichen Beobachter, der mit den Gegebenheiten des Irans nur wenig vertraut ist, kaum möglich sein. Manches Rätsel bleibt am Ende von „Untimely“ somit zurück, nicht alle Fragen werden beantwortet. Doch dank der brillanten, digitalen Fotografie, die Menschen und Landschaften in unbarmherziger Schärfe zeigt, entwickelt „Untimely“ ins einen besten Momenten einen ganz eigenen Sog und erzählt damit viel über die schwierigen Verhältnisse des Landes.

Michael Meyns