Vatersland

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Das Leben der Filmemacherin Marie von den 60er Jahren bis heute wird zur autobiographischen Reise durch eine disruptive Kindheit in der Zeit des Wirtschaftswunders und entwickelt sich immer stärker zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem erwachsenen Ich der Jetztzeit.
Die selbstreferenziellen Anteile der Geschichte – vor allem in Form von alten Original-Filmaufnahmen und Familienfotos von Petra Seeger persönlich – machen tatsächlich einen großen Teil der Anziehungskraft aus. Das ist ungewöhnlich. Dabei hat der Film etwas angenehm Spielerisches. Der hybride Spielfilm funktioniert dadurch gleich auf mehreren Ebenen als durchaus unterhaltsame, intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie.

Webseite: www.wfilm.de

Deutschland 2020
Drehbuch und Regie: Petra Seeger
Darsteller: Margarita Broich, Felizia Trube, Momo Beier, Stella Holzapfel, Bernhard Schütz,
Matti Schmidt-Schaller
Kamera: Hajo Schomerus
Musik: Dietmar Bonnen
Länge: 118 Minuten
Verleih: W-film
Kinostart: 10. März 2022

FILMKRITIK:

Als eines Tages eine große Kiste bei der Filmemacherin Marie eintrifft, fragt die Tochter: „Was ist da drin?“, und erhält als Antwort von der Mutter: „Meine Kindheit.“ Die Kiste enthält Fotos und Filme, die von Maries Vater stammen. Er war Profi-Fotograf und hat das ganze Familienleben auf Celluloid gebannt. Dabei nimmt die Geschichte dieser Familie, die so schön und harmonisch beginnt, einen tragischen Verlauf. Das Geschehen hat bei Marie Narben hinterlassen, die bis heute schmerzen. Das zeigen schon die ersten Bilder, noch in Schwarzweiß gedreht. Sie nehmen Marie sehr mit. Dennoch begibt sie sich auf die Reise zurück in die 60er Jahre. Die Krankheit und der Tod der Mutter, der schwierige Alltag mit dem älteren Bruder und dem Vater, die Internatsschule, die ersten Anzeichen von Rebellion, die langsame Ablösung von der Familie … Marie erlebt alles noch einmal und wird am Ende dieses kathartischen Prozesses das „Vatersland“ verlassen und ihr eigenes Land gefunden haben.

Petra Seeger hat eine ungewöhnliche und sehr interessante Form für ihre Frauengeschichte gewählt: Spielszenen in Rückblenden und mit unterschiedlichen Darstellerinnen für das jeweilige Marie-Lebensalter wechseln sich ab mit Original-Dokumenten aus der Vergangenheit und mit Szenen aus dem Hier und Jetzt. Die so entstehenden Schnittstellen und Parallelen machen einen Teil der Faszination des Filmes aus. Das ist überraschend, sind doch ansonsten selbstreferenzielle Storys, noch dazu mit Bezug auf die Filmbranche, oft eher öde Bauchbepinselung als ernsthafter Diskussionsbeitrag. Doch hier ist das anders, was durch die unterschiedlichen Erzählebenen, aber auch durch die Geschichte selbst angelegt ist. Maries Mutter war im selben Alter wie Marie heute, als sie starb, und Marie war genauso alt wie ihre Tochter heute, als sie die Mutter verlor. Die Ambivalenzen, die sich durch die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart entwickeln, erzielen formal wie inhaltlich eine außerordentliche Wirkung. Die Erzählebenen wechseln ständig, obwohl die Blickrichtung erhalten bleibt. Es geht um ein Frauenleben, dabei vor allem um die Ablösung vom Vater und vom tradierten Rollenverständnis. Das ist sehr gut durchdacht und deutlich unterhaltsamer, als es sich anhört. Denn mit den Perspektivwechseln geht auch eine feine ironische Distanz einher, die den gesamten Film durchzieht. Bekanntlich bestimmt der Inhalt die Form, und da es hier prinzipiell um Maries Erwachsenwerden geht – genauer gesagt: um ihr Bewusstsein als Kind, junges Mädchen, Frau, Ehefrau, Mutter und Filmemacherin – ist die komplexe Struktur eigentlich schon in der Geschichte angelegt. Das ist natürlich auch irgendwie ein feministisches Thema, aber letztlich sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass Menschen jeden Geschlechtes an ihrer eigenen Entwicklung arbeiten und sich von den Traumata und Lasten der Kindheit und Jugend lösen können. Hier kommt noch als zusätzlicher Kick der Bezug zur deutschen Geschichte und besonders zu Köln hinzu, so dass sich der Film problemlos auch als kleine Liebeserklärung der Autorin an ihre Heimatstadt verstehen lässt.

Auch cineastisch hat der Film einiges zu bieten, z. B. eine aufmerksame, sensible Kameraarbeit. Die Bilder aus Maries Kindheit, wie das Begräbnis der Mutter, sind am einprägsamsten. Es scheint, als ob die Bildsprache umso bewegender wird, je weiter Petra Seeger in ihre bzw. Maries Kindheit zurückgeht. Die Szenen zwischen der kleinen Marie und der kranken Mutter oder später am Esstisch mit Bruder und Vater sind extrem anrührend. Das Gleiche gilt für die späteren Familienszenen: der autoritäre, überforderte Vater und Witwer, dem die kleine Marie hilflos ausgesetzt ist. Maries Kindheit entwickelt sich nach dem Tod der Mutter zur Zeit der Repressionen. Je älter sie wird, desto offensichtlicher werden die Probleme mit dem Vater, der sie in einer Mischung aus Ignoranz und Eifersucht eher wie einen Alien im Haus behandelt, mit dem er überhaupt nicht zurechtkommt. Er nutzt sie vor allem als Haushaltshilfe und williges Fotomotiv aus. Später schiebt er sie zu Verwandten nach Bayern ab, mit Beginn der Pubertät landet sie im katholischen Internat. Maries Vater gehört zur Generation der „sprachlosen Männer“, wie so viele aus der Kriegsgeneration: unfähig, über Gefühle zu sprechen, ohne jede Sensibilität den eigenen Kindern gegenüber. Bernhard Schütz gelingt es, diesen Vater sympathisch zu machen – als Mann, der in Rollenklischees gefangen ist und sein schlichtes Weltbild an den Sohn und die Tochter weitergeben möchte. Petra Seeger macht das sowohl witzig, aber auch Mitleid erregend dadurch deutlich, dass er viele Sinnsprüche und geflügelte Worte verwendet: Solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst, das ist eben kein Zuckerschlecken … der Vater ist ein Sprücheklopfer, eigene Worte findet er nur selten, der Tochter gegenüber fehlen sie fast vollständig. Insgesamt drei Darstellerinnen verkörpern die Marie in unterschiedlichen Altersstufen: Felizia Trube ist die kleine Marie, Momo Beier spielt sie als Zehnjährige bis zur Pubertät, und Stella Holzapfel ist die Teenie-Marie. Alle drei spielen anrührend und herzerwärmend. In ihren Szenen zeigt sich Petra Seegers Fähigkeit, sich einerseits distanziert und dennoch mit emotionaler Wucht dem Kindheitstrauma zu stellen. Dagegen fallen die Spielszenen in der Gegenwart leicht ab. Margarita Broich spielt die Marie als Endvierzigerin, Mutter, Ehefrau und Filmemacherin in der Krise, und sie macht das prinzipiell sehr gut. Leider scheinen hier jedoch einige Drehbuchschwächen auf, die die manchmal etwas gewollte Konstruktion der Gegenwartssituation betreffen. Da werden vielleicht ein paar Probleme zu viel abgehandelt, mit denen sich die erwachsene Marie herumschlagen muss. Der Schluss hingegen ist schlicht genial. Hier findet Petra Seeger eine originelle und leicht augenzwinkernde Lösung, die ebenso überraschend wie liebenswert ist.

„Alles ist autobiografisch, selbst das Erfundene“ – das Zitat des französischen Schriftstellers Claude Simon steht als Motto über dem Film. Es beschreibt in aller Kürze gleichzeitig das Thema des Films und Petra Seegers sympathische und intelligente Umsetzung. Chapeau!

Gaby Sikorski