Wann kommst du meine Wunden küssen

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Ein beeindruckendes Charakterdrama mit schauspielerischen Glanzleistungen – die komplizierten Beziehungen zwischen drei Frauen stehen im Mittelpunkt einer Handlung, die vom Aussteigen erzählt und vom Ankommen, von Familie und Freundschaft, von Verlust, Verrat und Liebe.
Hanna Doose hat sich für ihren zweiten Spielfilm nach dem unerwarteten Erfolg ihres Debüts „Staub auf unseren Herzen“ (2012) viel Zeit gelassen. Auch hier arbeitet sie wieder mit improvisierten Dialogen, die ihrem hochkarätigen Ensemble, angeführt von Bibiana Beglau, Gelegenheit zur darstellerischen Entfaltung geben. Das Ergebnis ist ein sehr dichtes, authentisches und kühl gefilmtes Kammerspiel, ohne Schnickschnack und ohne falsche Emotionen.

Deutschland 2022
Drehbuch und Regie: Hanna Doose
Darsteller: Bibiana Beglau, Gina Henkel, Katarina Schröter, Alexander Fehling, Godehard Giese
Kamera: Markus Zucker
Komponist: Kangding Ray

Länge: 115 Minuten
Verleih: MFA+ Filmdistribution
Kinostart: 2. Februar 2022

FILMKRITIK:

Die Regisseurin Maria ist cool. Sie ist so cool, dass sie im Winter mit dem Motorrad von Berlin in den Schwarzwald fährt und durch schneebedeckte Wälder bis zum Bauernhof ihrer Familie, wo ihre Schwester Kathi und die beiden Aussteiger Laura und Jan leben. Früher waren sie unzertrennlich und angesagte Mitglieder der Berliner Szene. Laura war Marias beste Freundin, außerdem eine vielbeschäftige Schauspielerin in Marias Projekten. Jan war Marias große Liebe. Laura und Jan haben sich entschieden, gemeinsam aufs Land zu ziehen. Dafür hat sich Laura komplett vom Schauspielberuf verabschiedet, während Jan noch immer mit seiner Musik beschäftigt ist. Zusammen haben sie das riesige Anwesen in den Bergen von den beiden Schwestern Maria und Kathi gepachtet und versuchen sich als Ziegenzüchter und in der Käseherstellung. Das Leben ist hart, und die Geschäfte laufen nicht gut. Kathi zieht sich meistens zurück, sie streift durch die Wälder, schläft im Freien und betrachtet sich als Schamanin. Aber Kathi wird vielleicht nicht mehr lange leben: Bei ihr wurde eine Krebserkrankung diagnostiziert, die sie selbst behandelt, da sie der Schulmedizin misstraut. Ein Grund für Maria, dass sie nach vielen Jahren wieder Kontakt mit Kathi aufnimmt und sich auf dem Bauernhof einquartiert. Oder gibt es vielleicht noch andere Gründe?

Die komplizierten Verbindungen zwischen den Beteiligten enthüllen sich erst nach und nach. Zunächst einmal scheinen die Fronten ziemlich klar zu sein: alle gegen Maria. Als sie mit ihrem Motorrad auf dem Bauernhof vorfährt, macht sie sich sofort unbeliebt. Bald zeigt sich: Das hat zum Teil mit ihrer Vergangenheit zu tun, zum Teil mit der Einstellung der anderen, aber auch mit Marias Persönlichkeit. Als cooles Mitglied der Berliner Szene hat sie die Selbstdarstellung zur Kunstform erhoben. Vielleicht ist sie es inzwischen so gewohnt, sich zu verstellen, dass sie gar nicht mehr anders kann. Kaum angekommen, wird sie mit ihrer leicht arroganten Art zum Feindbild. Doch nicht nur Maria hat ihre kleinen Geheimnisse. Bibiana Beglau spielt diese komplizierte Frau mit großer Souveränität, es gelingt ihr scheinbar mit Leichtigkeit, die unterschiedlichen Facetten in Marias Charakter ebenso glaubwürdig wie überzeugend darzustellen. Maria ist durch sie nicht nur interessant, sondern wird tatsächlich auch immer sympathischer. Wie sie das macht, teils kratzbürstig, teils zartfühlend, oft mit der provokativen Arroganz von jemandem, der es besser weiß, aber immer genau auf ihrer Rolle, das macht viel Spaß und ist exquisit gespielt. Auch die anderen beiden Frauen Laura und Kathi werden sehr überzeugend von Gina Henkel und Katarina Schröter gespielt. Allerdings haben sie die etwas weniger dankbaren Rollen erwischt: Gina Henkel spielt die Aussteigerin als desillusionierte, leicht frustrierte Möchtegern-Bauersfrau, die sich mit dem Gedanken befassen muss, bald alles allein zu machen. Denn Jan, ihr Lebensgefährte, experimentiert deutlich lieber in seinem Tonstudio, als sich um die Ziegen zu kümmern. Kathi, die Schamanin, versucht sich mit ihrer Krankheit abzufinden, die sie früher oder später umbringen wird. Über ihr liegen immer stärker die Schatten ihrer Kindheit, die unausgesprochenen und die ausgesprochenen Vorwürfe gegen die Schwester. Katarina Schröder zeigt sie als sensiblen Geist mit Neigung zum Okkulten, die aber nie lächerlich ist. Im Gegensatz zu den anderen hat Kathi keine Möglichkeiten der Verdrängung. Während Maria sich mit Drogen und Jan sich mit Musik betäubt, hat Laura ihren heimlichen Lover zur Ablenkung. Nur Kathi hat nichts mehr. Für sie ist es an der Zeit, ehrlich zu sein. Jetzt müssen nur noch die anderen mitziehen. Ob dann wirklich mal alles auf den Tisch kommt, was zwischen ihnen steht?

Hanna Doose bereichert mit ihren improvisierten Dialogen den deutschen Film und gibt ihm damit Frische und eine sehr wahrhaftige Wirkung. Die Authentizität ihres neuesten Werkes ist aber nicht nur ihrer experimentierfreudigen Inszenierung zu danken. Die wunderbare Bildgestaltung von Markus Zucker liefert zu den komplizierten Verflechtungen zwischen den vier Bewohnern des Bauernhofs und ihre Auseinandersetzungen das passende Umfeld in Gestalt der hohen, dunklen Wälder, die das Anwesen umgeben. Sie sind auf den ersten Blick friedlich, aber auch ein bisschen bedrohlich, so wie die Beziehungen der Personen untereinander.

 

Gaby Sikorski