Folge meiner Stimme

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Mit feiner Poesie und ein bisschen märchenhaft erzählt die Tragikomödie von einer alten Frau in einem kurdischen Bergdorf, die ihren Sohn retten will. Er wurde vom türkischen Militär verhaftet, und angeblich wird er sofort freigelassen, wenn seine Familie die versteckten Waffen abgibt. Allerdings ist da ein kleiner, aber entscheidender Haken: Es gibt keine Waffen.
Die irrwitzige Story wäre auch eine ideale Vorlage für eine krachende Burleske, doch Hüseyin Karabey bevorzugt leisere Töne. Sein Werk zieht viel Charme aus der Kombination von stillem Humor mit authentischen, ruhigen Bildern von einem Leben, das idyllisch sein könnte. Der vielfach preisgekrönte kleine Film klagt niemanden an, macht aber den Wahnsinn des Krieges umso deutlicher: ein klarer Appell für den Frieden.

Webseite: www.folgemeinerstimme-film.de

Originaltitel: Were Dengê Min
Türkei, Deutschland, Frankreich 2014
Deutsche Overvoice: Meral Perin / deutsche Untertitel
Regie: Hüseyin Karabey
Drehbuch: Hüseyin Karabey, Abidin Parilti
Kamera: Anne Misselwitz
Darsteller: Feride Gezer, Melek Ülger, Tuncay Akdemi und andere Bewohner aus den Dörfern der Originalschauplätze
Länge: 90 Minuten
Verleih: barnsteiner-film
Kinostart: 17. März 2016
 

Preise/Auszeichnungen:

Berlinale 2014, Generation (Welturaufführung)
Istanbul Film Festival 2014, Publikumspreis, Preis für die beste Musik, Cine Europe Award
Milano Film Festival 2014, Publikumspreis
Mar de Plata International Film Festival 2014, Bester Film, Publikumspreis
Sofia International Film Festival 2015, Best Balkan Film Award
Maine International Film Festival 2015, Publikumspreis
Edirne International Film Festival 2015, Bestes Drehbuch, Spezialpreis der Jury

FILMKRITIK:

Als Klammer für die Handlung dient der Auftritt eines Märchenerzählers, der seinem gespannt lauschenden Publikum die Geschichte von Berfe erzählt. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Sohn Temo und dessen kleiner Tochter Jiyan in einem kurdischen Dörfchen mitten in den Bergen. Die friedliche Landschaft ist trügerisch, denn hier herrscht Krieg, auch wenn er meistens unsichtbar ist. Doch Stacheldrahtzäune, Wachtürme und Straßensperren sind die Zeugen des dauernden Konfliktes zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Minderheit. Das türkische Militär ist eine allgegenwärtige Bedrohung. Als Temo gemeinsam mit vielen anderen Männern des Dorfes verhaftet wird, ist die Verzweiflung groß. Doch Rettung ist möglich und vielleicht sogar nahe, denn der türkische Kommandeur verspricht jedem Gefangenen die Freiheit, wenn seine Familie die Waffen abliefert, die sie im Haus versteckt haben. Doch niemand hat hier Waffen versteckt, und falls sich doch – wie bei Berfe – eine anfindet, dann ist sie steinalt und unbrauchbar. Also begibt sich Berfe mit ihrer Enkelin Jiyan auf die Reise durch die Berge, um eine funktionsfähige Waffe zu finden. Berfe ist alt und nicht besonders gut zu Fuß, aber sie ist wild entschlossen und sehr hartnäckig, ähnlich wie der Fuchs aus der Fabel, die Jiyan so gerne hört und die Berfe ihr während der Odyssee durch die Berge erzählt. Und irgendwann werden die beiden auch dem Märchenerzähler und seinen Begleitern begegnen …
 
Hüseyin Karabey findet für seine Geschichte über kleine Leute in den Wirren des türkisch-kurdischen Konfliktes eine einprägsame, einfache Sprache, für die Anne Misselwitz sehr schöne, klare Bilder von meditationsfähiger Qualität beisteuert. Sie fängt mit der Kamera das Leben der Menschen in den Bergen ein und zeigt ganz unaufdringlich eine faszinierende Kultur, die möglicherweise bald verschwunden sein wird. Das ist alles andere als Mainstream, stattdessen außergewöhnlich kunstvoll und von einem spröden Charme, der sehr gut zur Atmosphäre und zu der wunderschönen kargen Landschaft Kurdistans passt, ebenso wie Belfes Gelassenheit und ihr unerschütterliches Gottvertrauen.

Es macht den Film noch sympathischer, dass Hüseyin Karabey alle Rollen mit Laiendarstellern besetzt hat. Die Älteren sind kernige Gestalten mit zerfurchten Gesichtern, deren Blicke von Not und Trauer ebenso erzählen wie von der Weisheit und Ruhe, die sich mit den Jahren bei denen einstellt, die Krieg und Elend überlebt haben. Berfe (Feride Gezer) ist eine von ihnen, eine beeindruckende Frau, die so viel gesehen und durchgemacht hat, dass sie kaum noch aus der Ruhe zu bringen ist. Die kleine Jiyan (Melek Ülger) wird zu ihrer Gefährtin und Mitwisserin, die in einer Mischung aus kindlicher Unschuld und Neugier die Großmutter nicht nur begleitet, sondern ihr auch hilft. Das ungleiche Paar – das kleine, schmale Kind und die massige, alte Frau mit dem schaukelnden Gang derjenigen, die ihren Hüften und Knien mit Recht nicht mehr trauen – überwindet langsam, aber mit eiserner Beharrlichkeit Berge, Straßensperren und Durchsuchungen, immer auf der Flucht und auf der Suche – zwei liebenswerte, schweigsame Gefährtinnen in einem winzig kleinen Roadmovie, das vom Krieg handelt und von denen, die damit nichts zu tun haben und nichts zu tun haben wollen: einfache Menschen, deren Schicksal von der Politik und von deren Befehlsempfängern bestimmt wird, gegen die sie eigentlich keine Chance haben. Berfe und Jiyan werden zum Symbol für diese Menschen – sie wehren sich auf ihre Weise, beinahe so listig wie der Fuchs aus der Fabel, deren überraschendes Ende Jiyan als Beinahe-Schlussgag an ihre Spielgefährten weitergibt. So findet der Film ein versöhnliches, beinahe optimistisches Ende: Das Kind wird zur Märchenerzählerin einer hoffentlich friedlichen Zukunft.
 
Gaby Sikorski