Neuland

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Flüchtlinge verändern die europäischen Gesellschaften, ob diese wollen oder nicht. Kein einfacher Prozess. Für sie selbst aber ist der Prozess des Ankommens und der Integration in einer neuen Welt noch schwieriger. Die Filmemacherin Anna Thommen beobachtete in Basel über zwei Jahre lang die jungen Menschen einer Integrationsklasse, in der sie auf ein Berufsleben in der Schweiz vorbereitet werden. Zum heimlichen Star des Films steigt der warmherzige Lehrer Christian Zingg auf. Dafür gab's vielfach Auszeichnungen: u.a.  bester Dokumentarfilm beim First Steps Award Berlin und beim Zürich Filmfestival, Publikumspreis beim Berner Filmpreis 2013 und Horizonte Filmpreis des Fünf Seen Filmfestivals Starnberg.

Webseite: http://neuland-film.de

Schweiz 2013
Buch und Regie: Anne Thommen
Kamera: Gabriela Betschart
Länge: 93 Minuten
Verleih: Rise and Shine Cinema
Kinostart: 23. April 2015
 

FILMKRITIK:

In Christian Zinggs neuer Integrations- und Berufswahlklasse (IBK) sitzen junge Menschen aus Serbien, Albanien, Afghanistan, der Türkei und vielen anderen Ländern. Niemand hier hat seine Heimat freiwillig verlassen. Alle sind geflüchtet oder mussten unter traurigen Umständen aufbrechen. Sie haben unter teilweise abenteuerlichen Bedingungen Tausende von Kilometern und diverse kulturelle Grenzen überwunden und sind nun in einem für sie völlig fremden Land gestrandet. Da ist zum Beispiel Ehsanullah Habibi, der als Sohn armer Bauern mit 16 Jahren Afghanistan verließ. Er spricht sehr schlecht Deutsch und leidet sichtlich unter Einsamkeit und Entwurzelung. Oder Nazlije Aliji, die Serbien verlassen musste, als ihre Mutter starb, und nun bei ihrem Vater in der Schweiz lebt. Sie möchte Lehrerin werden, muss aber einsehen, dass ihre Deutschkenntnisse dafür nicht ausreichen. Sie alle finden in der Fremde eine Schulter zum Anlehnen in der Gestalt ihres Lehrers Christian Zingg, der sie mit Offenherzigkeit, Interesse und durchaus auch Strenge bei ihrer Suche nach einer Zukunft anleitet.
 
Die Regisseurin Anna Thommen sagt über die Arbeit an ihrem Film: „ Die große Herausforderung begann beim Schnitt: Wie sollte ich die intensiven Erfahrungen zweier Jahre in 90 Minuten Film aufzeigen? Wie bewältige ich die Gratwanderung, einen dramaturgischen Spannungsbogen zu schaffen und trotzdem das Leben in Graustufen zu zeigen?“ Es ist eine Herausforderung, die Anna Thommen mit Bravour gemeistert hat. Im Lauf der 90 Minuten schälen sich mehrere Geschichten heraus, die menschliche Schicksale erzählen, ohne sie brutal zu vereinfachen. Das gelingt ihr vor allem dadurch, dass sie intensive Sequenzen sich entwickeln und atmen lässt, die dann für die größeren Geschichten stehen. So beobachtet sie Ehsanullah beim Telefonieren mit der Mutter und deutet an, unter welchem Druck der stille Junge stehen muss.
 
Tatsächlich verfügt der Film über eine beträchtliche Spannungsdramaturgie. Schließlich geht es darum, ob die Protagonisten am Ende der zwei Jahre einen Ausbildungsplatz finden. Dabei kommt dem Pädagogen Christian Zingg große Wichtigkeit zu. Denn er macht seinen Schülern immer wieder klar, dass sie in der Schweiz und in ihrem neuen Leben nur glücklich werden können, wenn sie eine Ausbildung machen – und nicht als Hilfsarbeiter enden. „Neuland“ gelingt in diesem Kontext zweierlei: Einerseits macht der Film deutlich, dass Flüchtlinge keine Sozialschmarotzer, sondern oft traumatisierte Menschen auf der Suche nach einem neuen Leben sind; andererseits zeigt er, dass das nur gelingen kann, wenn es engagierte Menschen gibt, die diese Flüchtlinge im wahren Wortsinn aufnehmen. Die sich ihre Geschichten anhören, die ihnen Orientierung geben, die ihnen in schweren Zeiten beiseite stehen.
 
Immer wieder blendet Thommen Gedichte ein, die einer der Schüler in sehnendem Verlangen nach der Heimat geschrieben hat. Sie verschweigt nicht, welchen Preis auch die tollsten Erfolgsgeschichten von den Protagonisten verlangen. Mit „Neuland“ ist ihr ein wahrmherziger, ein menschlicher Blick auf ein Thema gelungen, das so sehr mit Vorurteilen besetzt ist.
 
Oliver Kaever