Zeiten des Umbruchs

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James Gray hat mit „Zeiten des Umbruchs“ seinen bis dato persönlichsten Film abgeliefert. Einen über einen Jungen, der Künstler werden will, was niemand aus seiner Familie außer seinem Großvater versteht. Es ist eine kleine, im Grunde unspektakuläre Geschichte, die jedoch von der grandiosen Neuentdeckung, dem Jungen Banks Repeta, getragen wird. Er steht sogar neben dem großen Anthony Hopkins seinen Mann. In Cannes wurde der Film mit einer siebenminütigen Standing-Ovation gefeiert.

Webseite: https://www.upig.de/micro/zeiten-des-umbruchs

Armageddon Time
USA 2022
Regie: James Gray
Buch: James Gray
Darsteller: Anne Hathaway, Jeremy Strong, Banks Repeta, Anthony Hopkins, Jessica Chastain

Länge: 115 Minuten
Verleih: Universal
Kinostart: 24. November 2022

FILMKRITIK:

Paul ist in der sechsten Klasse. In Johnny findet er einen Freund, der sich mit dem Lehrer anlegt, der sich von niemandem etwas gefallen lässt, der aber auch auf einem schlechten Weg ist. Beide träumen von einem anderen Leben, denn Paul möchte ein Künstler werden. In seiner Familie wird das nur belächelt, sein Großvater jedoch ermutigt ihn, seinen Träumen zu folgen. Johnny möchte zur NASA, doch das wird nur ein Traum bleiben – das weiß man vom ersten Augenblick, da er davon erzählt. Paul hat eine größere Chance, zu dem zu werden, der er sein will, aber letztlich braucht es Johnnys Hilfe – und ein Opfer, das nie beglichen werden kann.

Der Originaltitel bezieht sich auf eine Rede von Ronald Reagan, kurz, bevor dieser Präsident wurde. Er sprach häufig vom Armageddon. Dass dies die Zeit des jüngsten Gerichts sei und sie alle die Generation, die es erleben werde. Der Clip wird auch im Film gezeigt. Das von Reagan postulierte Sodom und Gomorrha sollte das Resultat homosexuellen Lebensstils sein. In Pauls Familie bedauern alle, dass Reagan Präsident wird. In Grays Familie war das wohl auch so. In seinem Film zeigt er auch Fred Trump, den Vater von Donald, der ein ähnlich widerliches Subjekt Mensch war. Aber sie alle sind nur da, den Kontext zu liefern, während Gray vom Leben eines Kindes zu Beginn der 1980er Jahre in New York erzählt.

Einem Kind, das nie das Gefühl hat, dazuzugehören. Nur bei seinem Großvater fühlt er sich geborgen. Eine große Rolle für Anthony Hopkins, der dem Jungen von der Flucht seiner Großmutter aus der Ukraine vor den Nazis erzählt. Er hat die Lektionen des Lebens verinnerlicht. Als Paul an eine Privatschule kommt, hört er, wie dort Schüler über Schwarze sprechen. Das erzählt er seinem Großvater, der in einer leidenschaftlichen Rede den Jungen anhält, nicht zu schweigen, nicht stillzustehen, sondern etwas zu sagen und sich gegen dieses kleingeistige Gedankengut zu stellen. „Be a Mensch“, sagt Hopkins‘ Figur. „Sei ein Mensch“ – das heißt im Jiddischen mehr als im Deutschen. Ein Mensch, das ist jemand, der rechtschaffen ist, der tapfer ist, jemand, den man in der Not gerne an seiner Seite hat.

Paul ist ein Junge, der am liebsten weg möchte. Sein Vater neigt zu Wutausbrüchen. Er schlägt den Jungen auch, und dann, wenn man es am wenigsten erwartet, zeigt auch er eine Menschlichkeit und ein Verständnis, das man ihm nicht zugetraut hätte. Bei Gray gibt es keine eindimensionalen Figuren, sie alle sind lebende, fühlende, denkende, komplexe Menschen, so wie es sie im echten Leben eben auch gibt.

Der Autor und Regisseur hat sich stark von seiner eigenen Kindheit inspirieren lassen, auch von der Freundschaft zu einem Jungen, den er nach einem Zwischenfall mit der Polizei niemals wieder gesehen hat. Die Umstände sind im Film anders, aber sie verdeutlichen auch das Schuldgefühl, das Gray packte – und vielleicht immer noch packt. Weil er das Leben führen konnte, das er sich wünschte, und sein Freund den Preis bezahlte.

„Zeiten des Umbruchs“ ist ein in jeder Beziehung vielschichtiger Film über die Familie, die Freundschaft, die Komplexität des Lebens und nicht zuletzt einer darüber, dass das Leben nur selten fair ist. Aber manche hin und wieder das Glück einer zweiten Chance genießen dürfen.

 

Peter Osteried

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(zweite Kritik zum Film von Michael Meyns, veröffentlicht unter dem Titel "Armageddon Time")