Eine offene Rechnung

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Mit „Eine offene Rechnung“, dem US-Remake eines israelischen Spionagedramas, gelingt John Madden ein spektakulärer, intelligenter Agententhriller samt veritablen Suspense-Faktor. Auf mehreren Zeitebenen erzählt der versierte Genre-Regisseur stilsicher eine komplexe Geschichte um die Jagd des israelischen Geheimdienstes auf einen Nazi-Verbrecher, Verstrickungen, Schuld und die langen Schatten der Vergangenheit. Vor allem die britische Grand-Dame und Oscar-Preisträgerin Helen Mirren und Shootingstar Jessica Chastain als ihr Alter Ego, brillieren in dem brisanten Politdrama, das mit eindringlichen Dialogen kammerspielartige Momente heraufbeschwört.

Webseite: www.eine-offene-rechnung.de

USA 2010
Regie: John Madden
Darsteller: Helen Mirren, Jessica Chastain, Ciarán Hinds, Sam Worthington, Tom Wilkinson, Marton Csokas, Jesper Christensen, Romi Aboulafia
Drehbuch: Peter Straughan, Jane Goldman, Matthew Vaughn, Assaf Bernstein, Ido Rosenblum
Länge: 113 Minuten
Verleih: Universal
Kinostart: 22. September 2011

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ostberlin 1965. Drei Agenten des israelischen Geheimdiensts Mossad auf gefährlicher Mission. Ihre Aufgabe: Den ehemaligen KZ-Arzt Dieter Vogel (Jesper Christensen), der mittlerweile unbehelligt eine gynäkologische Praxis betreibt, aufzuspüren. Dem Naziverbrecher soll, ähnlich wie im Falle von Adolf Eichmann, in Israel der Prozess gemacht werden. Für die ehrgeizige, junge Rachel Singer (Jessica Chastain), ihren idealistischen Kollege David Peretz (Sam Worthington) und den coolen, lässigen Kommandeur Stephen Gold (Marton Csokas) eine willkommene Herausforderung. Doch die gut geplante Operation läuft total aus dem Ruder.

Rachel erschießt den Sadisten auf der Flucht, so die offizielle Version. Über drei Jahrzehnte später veröffentlicht ihre Tochter Sarah (Romi Aboulafia), ein Buch über die heldenhafte Mission ihrer gefeierten, patriotischen Mutter (Helen Mirren). Die junge Journalistin bringt damit ungewollt eine Lawine ins Rollen. Denn die Schatten der Vergangenheit holen die drei in die Jahre gekommenen Ex-Agenten gnadenlos ein. Erneut muss sich das Trio damit auseinandersetzen, was damals wirklich geschah.

In eleganten Rückblenden zeichnet der intelligent komponierte Agenten-Thriller die Schritte der dreiköpfigen Mossad-Gruppe nach, ihre Konflikte und emotionalen Verwicklungen innerhalb des Teams. Dabei wechselt Regisseur John Madden ständig zwischen den Zeitebenen. Gleichzeitig gelingt es ihm den Zuschauer immer wieder in die Irre zu führen. Denn natürlich ist nichts, wie es zunächst scheint. Streckenweise weichen die raschen Schnitte quälenden kammerspielartigen Momenten. Denn in der düsteren Plattenbau-Wohnung, in dem die Agenten den „KZ-Chirurgen von Birkenau“ festhalten, entwickelt sich durch die unglückselige Ménage-à-trois zwischen Rachel, David und Stephen eine Atmosphäre aus unterdrückter Aggression, Sexualität und Eifersucht. Gekonnt treibt der skrupellose NS-Verbrecher sein teuflisch perverses Spiel damit.

Bereits mit seiner historischen Komödie „Shakespeare in Love“ glückte dem gebürtigen Briten John Madden ein Welterfolg. Auf beiden Seiten des Atlantiks sammelte der 62jährige versierte Genre-Regisseur Erfahrung, die sich jetzt auszahlt. In seinen besten Momenten erinnert sein packendes Spionagedrama an die unbequemen Top-Klassiker und Agenten-Highlights der 70er Jahre wie Sydney Pollacks „Die drei Tage der Condors“ oder John Schlesingers „Der Marathon-Mann“. Ebenfalls feinste britische Wertarbeit liefert Schauspiellegende Helen Mirren als alternde Agentin, die damit fertig werden muss, ihre Tochter Jahre lang belogen zu haben. Die Meisterin der Nuancen, der sparsamen Gesten, arbeitet auch dieses Mal ihre Figur kristallklar heraus.

Schließlich beherrscht die englische Charakterdarstellerin in ihrer mehr als 40-jährigen Karriere, den Spagat zwischen großen historischen Frauenfiguren und modernen Grenzgängerinnen. Die energiegeladene Mittsechzigerin, die mit 19 Jahren die jüngste je in die ehrwürdige „Royal Shakespeare Company“ aufgenommene Schauspielerin war, brillierte in traumhaft aufwändigen Kostümen in Shakespeare-Rollen aber auch ohne feine Stoffe in Nigel Coles „Kalender Girls“. Den größten Triumph freilich feierte die Britin aus einer weißrussischen Aristokratenfamilie als Verkörperung Queen Elizabeth II. in Stephen Frears Biopic über die Monarchin. Seitdem gilt die Oscar-Preisträgerin als Inbegriff alles Britischen.

Aber auch Shootingstar Jessica Chastain zieht in diesem Action-Drama mit Liebesgeschichte die Blicke magnetisch auf sich. Schon der Auftritt der grazilen rothaarigen Kalifornierin als ätherisch-madonnenhafte Mutter in Terrence Malicks bildgewaltigem Werk „The Tree of Life“, Gewinner der Goldenen Palme in Cannes, sorgte für Aufsehen. Glaubwürdig meistert die 30jährige jetzt als junge Mossad-Agentin die körperliche Herausforderung ihrer Kampf-Szenen, die sie ohne Stunt ausnahmslos selbst übernahm. Dass er im Charakterfach ebenso überzeugen kann, beweist auch Australier Sam Worthington, der nach „Avatar“ und „Kampf der Titanen“ eigentlich als neuer Stern am Actionhimmel gehandelt wird.

Vielleicht gerade wegen des brisanten Themas, bleiben am Ende des spektakulären Politthrillers Fragen offen. Kein Wunder: Denn der Großteil der Ärzte, die während der NS-Zeit in KZs, Kliniken und Heilanstalten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging, kam ohne adäquate Bestrafung davon. Prozesse in den 60er- und 70er-Jahren endeten mit Freisprüchen, weil es den Angeklagten an „Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihrer Taten“ gemangelt habe oder wegen „Verhandlungsunfähigkeit“. Eine adäquate Aufarbeitung der medizinischen Verbrechen im Dritten Reich fand nicht statt. Die Chance zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme wurde verspielt. Viele dieser Ärzte führten ihre Praxen bis in die Neunzigerjahre weiter oder setzten ihre Karriere ungebrochen fort.

Luitgard Koch

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