Courage

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Im richtigen Moment am richtigen Ort. Dieses Glück hatte der aus Belarus stammende, in Deutschland lebende Regisseur Aliaksei Paluyan, als er im Frühsommer 2020 mit der Arbeit an seiner Dokumentation „Courage“ begann, der nun in der Reihe Berlinale-Special seine Weltpremiere erlebte. Dass die fragwürdige Präsidentschaftswahl im August zu Massenprotesten führen sollte, war kaum zu ahnen, verleiht Paluyans Film jedoch ungeahnte Aktualität und emotionale Dichte.

Website: https://riseandshine-cinema.de/portfolio/courage

Dokumentation
Deutschland 2021
Regie & Buch: Aliaksei Paluyan
Länge: 90 Minuten
Verleih: Rise and Shine
Kinostart: Sommer 2021

FILMKRITIK:

Seit über einem Vierteljahrhundert regiert in Belarus Alexander Lukashenko, der oft als letzter Diktator Europas bezeichnet wird. Mehr noch als der große russische Bruder im Osten schottet sich Belarus ab, das durch die politischen Entwicklungen nun an die EU-Länder Polen, Litauen und Lettland grenzt, sich dazu eine lange Grenze mit der Ukraine teilt, die zwischen Ost und West zerrissen ist. Seit langem gärt es im Land, wächst die Unmut gerade der jüngeren Bevölkerung, die oft gut ausgebildet ist, sich aber von den politischen Barrieren eingegrenzt fühlt.

Eher mittleren Alters sind die drei Protagonisten von Aliaksei Paluyan Dokumentation, Maryna, Pavel und Denis, drei Schauspieler, die in einem regimekritischen Untergrundtheater aktiv sind. Allein diese Tätigkeit dürfte ausreichen, dass sie vom Staat und seinen Sicherheitsorganen überwacht werden, der Gründer ihres Theaters, der Dramatiker und Journalist Nikolai Khalezin lebt schon im Exil und ist bei den Proben nur via Skype-Konferenz anwesend.

Doch in diesem Sommer spielt sich das größte Drama nicht auf der Bühne ab, sondern auf den Straßen der Hauptstadt Minsk, vor allem der kilometerlangen, die Innenstadt durchziehenden Allee Praspiekt Niezaliežnasci, was ironischer Weise Unabhängigkeitsboulevard bedeutet. Nach der zumindest fragwürdigen Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020, zog es zehntausende Bewohner auf die Straßen, oft gekleidet in weiß-roter Kleidung oder weiß-rote Fahnen schwenkend, in Anlehnung an die Fahne, die in der damaligen Weißrussischen Volksrepublik zwischen 1917 und 1919 wehte.

Es sind beeindruckende Aufnahmen, die Aliaksei Paluyan in diesen Tagen gedreht hat, Bilder vom friedlichen Protest, von Menschenmassen, die für einen Wandel demonstrieren, dann, ganz plötzlich, die Gegenwehr des Systems, Polizisten und Sondereinheiten, die in schwerster Montur die Straßen räumen, Tränengas verschießen, teilweise auch mit scharfer Munition auf die Demonstranten zielen und tausende Personen festnehmen.

Und dann passiert Erstaunliches, ändert sich die Zusammensetzung der Protestierenden: Vor dem berüchtigten Gefängnis, in dem Gefangene oft brutal geschlagen oder gar gefoltert werden, versammeln sich nun nicht mehr die jüngeren Belarussen, sondern die ältere Generation, ihre Eltern.
Ohne viele Worte zu verlieren zeigt Aliaksei Paluyan diese Ereignisse, zeigt seine drei Protagonisten bei alltäglichen Beschäftigungen, aber auch bei den Vorbereitungen zur Demonstration: Prophylaktisch werden da Unterhosen und Toilettenpapier eingepackt, verfängliche Daten auf dem Handy gelöscht, denn eine Verhaftung ist hier nicht bloß entfernte, sondern sehr realistische Möglichkeit. Viel Mut bedarf es also, sich diesem Regime entgegenzustellen, auf der Straße, wie auf der Bühne.

Wie lange dieser Kampf schon dauert deuten alte Dokumentaraufnahmen an, mit denen Paluyan seinen Film beschließt: Aus den 90ern stammen sie, in den Wogen der Republikgründung, als sich das damalige Weißrussland von Russland löste, ein unabhängiger Staat wurde, aber nur der Diktator an der Spitze ausgetauscht wurde. Wären sie nicht in schlechterer Bildqualität, könnte man die alten kaum von den neuen Bildern unterscheiden. Menschen auf der Straße, auf dem gleichen Boulevard, vereint im Kampf gegen ein Regime. Damals war der Kampf nicht erfolgreich, ob er es heute sein wird steht noch in den Sternen.

Michael Meyns