Dear Evan Hansen

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Die Ursprünge von „Dear Evan Hansen“ sind auf der Bühne. Dort debütierte das Musical im Jahr 2015. Für die Filmversion wurde das Quellmaterial bearbeitet. Einige Songs fielen bei der Umsetzung durch die Ritzen, einen neuen gibt es aber auch. Notwendig wurde das vor allem, um die Laufzeit von ohnehin 137 Minuten nicht noch deutlich zu erhöhen. Die Geschichte um einen Jungen, dessen Selbstmord eine ganze Stadt berührt, ist bestes Musical-Material, hat aber auch eine Botschaft, die jenen helfen mag, die keinen Ausweg mehr sehen.

Website: https://www.upig.de/micro/dear-evan-hansen

USA 2021
Regie: Stephen Chbosky
Buch: Justin Paul, Steven Levenson
Darsteller: Ben Platt, Julianne Moore, Kaitlyn Dever, Amandla Stenberg, Amy Adams
Länge: 137 Minuten
Verleih: Universal
Kinostart: 28.10.2021

FILMKRITIK:

Evan Hansen (Ben Platt) ist in Therapie. Eine der Aufgaben, die man ihm stellt, ist die, einen Brief an sich selbst zu verfassen. Das macht er auch, aber der Brief gerät in die Hände von Connor, der wie Evan keinerlei Freunde hat. Als Connor sich umbringt, wird der Brief bei ihm gefunden. Seine Eltern glauben, dass Evan Connors bester Freund war und wollen mehr über diese Freundschaft und damit auch mehr über ihren Sohn erfahren. Evan bringt es nicht übers Herz, den Eltern, aber auch Connors Schwester die Wahrheit zu sagen. Doch mehr und mehr gerät die Situation außer Kontrolle.

Ben Platt spielte Evan Hansen schon auf der Bühne. Der Schauspieler geht auf die 30 zu, was man ihm auch ansieht. Man hätte vielleicht neu besetzen müssen, aber dem offensichtlichen Alter des Schauspielers zum Trotz ist er als Evan Hansen überzeugend. Er schafft es, eine Verbindung zum Zuschauer aufzubauen, die stärker wird, je mehr seine Figur in eine Ecke gedrängt wird und nicht mehr weiß, wie sie sich aus diesem Lügengebilde, das anfangs nur einen guten Zweck hatte, zu befreien.

Musicals zielen in der Regel immer aufs Gefühl ab. Das ist Teil ihrer DNS. Aber es gibt Unterschiede. Filme und Bühnenstücke, die mehr als andere daraufsetzen, dass der Zuschauer von seinen eigenen Emotionen überwältigt wird. Bei „Dear Evan Hansen“ geschieht das, weil die Geschichte auf mehreren Ebenen funktioniert. Sie ist eine, die im Grunde morbide ist, die aber auch das Gefühl verleiht, dass es in Ordnung ist, anders zu sein. Mehr noch: Der Film kümmert sich nicht nur um die Hauptfigur, sondern zeigt nach und nach auch, was hinter der Fassade aller anderen steckt. Denn jeder fühlt sich mal allein, aber niemand muss es jemals wirklich sein.

Der Film zelebriert es, anders zu sein. Er schreit in die Welt hinaus, dass dies nicht nur gut so ist, sondern jeder sein muss, wie er ist. „Dear Evan Hansen“ hat darum auch etwas Tröstliches, insbesondere für Menschen, die sich in einer Lage wie Evan oder Connor befinden, die keinen Anschluss haben, die sich ausgegrenzt und allein fühlen. Ein Film wie dieser kann das Züngelchen an der Waage sein, die Antithese zu Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, dessen Veröffentlichung eine Suizidwelle nach sich zog. Weil er klar und unmissverständlich ausspricht, dass es egal ist, wie schlecht man sich fühlt. Man muss weitermachen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Lieben, die man im Leid zurücklassen würde …

Peter Osteried