Europe

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Das Spielfilmdebüt von Philip Scheffner (u. a. HAVARIE, 2016) handelt von Zohra, einer Frau aus Algerien, die in Frankreich lebt und überraschend in ihre Heimat ausreisen soll.

Philip Scheffner hat sich für eine formal interessante und schwierige Dramaturgie entschieden, indem er klassische Erzählformen mit einer experimentellen Bildsprache verbindet. Dadurch ergibt sich ein Ablauf, der durch Brüche und Irritationen gekennzeichnet ist und auf diese Weise Zohras Lebenssituation widerspiegelt.

Deutschland/Frankreich 2021
OmU (französisch/arabisch mit deutschen UT)
Regie: Philip Scheffner
Drehbuch: Merle Kröger, Philip Scheffner
Darsteller: Rhim Ibrir, Thierry Cantin, Didier Cuillierier, Khadra Bekkouche, Nouria Lakhrissi, Sadya Bekkouche, Hassane Ziani, Zoulikha Ibrir, Amandine Demuynck
Bildgestaltung: Volker Sattel
105 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 10. März 2022

FILMKRITIK:

Zu Beginn sind Regieanweisungen aus einem Gebäude heraus zu hören – es handelt sich um ein Krankenhaus in Frankreich, wo Zohra einen Termin bei ihrem behandelnden Arzt hat. Er hat gute Nachrichten für sie, denn sie gilt nun, nach mehreren aufwändigen Wirbelsäulenoperationen, als geheilt. Sie soll schwimmen gehen, das sei gut für ihren Rücken. Zohra fährt mit dem Bus nach Hause in die Vorstadt und steigt an der Station „Europe“ aus. Dort, in einer Vorstadtsiedlung, hat sie eine kleine Wohnung. Ihr Mann Hocine wartet in Algerien darauf, dass er ihr nach Frankreich folgen kann, denn hier in Châtellerault lebt schon ein großer Teil ihrer Familie und sie hat einen guten Job. Sie nimmt Schwimmunterricht, denn bevor sie schwimmen kann, muss sie es erst einmal lernen, und das ist für Zohra eine echte Aufgabe, die sie viel Überwindung kostet. Es scheint, als ob es nicht mehr lange dauert, bis sie ihren Mann Hocine endlich wiedersieht. Die Sommerferien rücken näher, und alle sind schon in freudiger Erwartung des Urlaubs. Doch statt der ersehnten Verlängerung ihres Bleiberechts erhält Zohra die Nachricht, dass ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wird, und zwar mit der Begründung, dass die Heilbehandlung abgeschlossen sei. Zunächst glaubt Zohra an einen Irrtum, doch auf dem Amt wird der Bescheid bestätigt.

Zohra bleibt allein im Banlieue zurück, ihre ganze Familie ist weg, der ehemals lebhafte kleine Marktplatz mit seinem bunten Treiben ist bald wie ausgestorben. Sie verliert ihren Job und ihre Wohnung, und in der Illegalität wird Zohra unsichtbar für die Welt.

Dieses Nicht-Sichtbarsein ist wörtlich gemeint, denn von nun an lässt Philip Scheffner seine Protagonistin außerhalb des Bildausschnittes und stumm agieren, so dass sie weder zu sehen noch zu hören ist. Dafür rücken ihre Gesprächspartner in den Mittelpunkt – die Arbeitskollegin, die Freundin. Dadurch entsteht ein interessanter visueller Effekt, unter anderem werden die Nebenfiguren wichtiger, und natürlich wird die Botschaft dahinter sehr klar: Zohra gehört nicht mehr dazu, sie ist unsichtbar und zum Schweigen gebracht. Sie lebt nicht als Geist oder Schatten weiter, sondern sie ist einfach weg. Im verschwimmenden Raum zwischen Gegenwart und Zukunft erlangt sie dann ihre Sichtbarkeit wieder, indem sie sich selbst und ihr Leben neu erfindet. Ob sie tatsächlich in der Illegalität lebt, was von ihren Träumen Wirklichkeit wird … all das bleibt unklar.

Philip Scheffner findet für seinen Film über den leisen Kampf einer Frau um ihre Identität und ihr Bleiberecht beeindruckende Bilder, die oft verwirrend sind, gelegentlich etwas zu offensichtlich und manchmal einfach sehr schön, die aber vor allem von der Kraft und der ruhigen Würde der Hauptdarstellerin leben. Rhim Ibrir ist keine gelernte Schauspielerin, aber sie spielt die Zohra mit intuitiver Sensibilität als äußerlich wenig berührte, gefasste und freundliche Frau, die sich im Lauf des Films immer stärker selbst aktiviert. Am Ende hat sie Schwimmen gelernt.

 

Gaby Sikorski