Grand Jeté

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Ungewöhnliche Beziehungen waren eines der Leitmotive der diesjährigen Berlinale, eine der seltsamsten schilderte Isabelle Stever in „Grand Jeté“, der im Panorama gezeigt wurde. Sie erzählt von der inzestuösen Beziehung zwischen einer Balletttänzerin und ihrem Sohn, der zudem noch ein Teenager ist.

Deutschland 2022
Regie: Isabelle Stever
Buch: Anna Melikova, nach einem Roman von Anke Stelling
Darsteller: Sarag Grether, Emil von Schönfels, Susanne Bredehöft, Stefan Rudolf, Ellen Müller, Maya Kornev
Länge: 105 Minuten
Verleih: Little Dream Entertainment
Kinostart: demnächst

FILMKRITIK:

Nadja (Sarah Grether) ist Balletttänzerin, Mitte 30 etwa, und hat ihr Leben dem Beruf gewidmet. In einer Schule unterrichtet sie junge Eleven, ihr Körper knackt und knarrt an vielen Stellen, Ausschläge, wunde Füße, ein Trümmerfeld. Zum Geburtstag ihrer Mutter Hanne (Susanne Bredehöft) fährt Nadja in ihre Heimat, eine Kleinstadt irgendwo in der brandenburgischen Provinz. Dort, bei ihrer Mutter lebt auch Mario (Emil von Schönfels), Nadjas Sohn, fast volljährig zwar, aber eigentlich noch ein Teenager.

Kontakt hatten Mutter und Sohn bislang kaum, ihrer Karriere wegen hatte Nadja ihn verlassen. Doch als Nadja nach dem Geburtstag zurück nach Berlin will, nimmt Marco sie mit in einem Club, zum Tanzen. Und nachts, zurück in der Wohnung der Großmutter, haben Mutter und Sohn Sex miteinander.

Schon einige Male hat Isabelle Stever in ihren Filmen Themen angerissen, die zumindest ambivalente Reaktionen heraufbeschwören: In ihrem zweiten Film „Gisela“ zeigte sie zum Beispiel eine Mutter, die ihr Kind mit zum Sex mit einem Lover nimmt, damit es nicht allein zu Hause bleibt. In ihrem letzten Film „Das Wetter in geschlossenen Räumen“, spielte Marie Furtwängler eine Mitarbeiterin einer internationalen Hilfsorganisation, die einerseits Gelder für Bedürftige sammelte, andererseits Alkoholikerin ist, Hotelzimmer verwüstet und sich Untergebene als Liebhaber hält.

Nun also Inzest, doch die Beiläufigkeit mit der Stever sich um dieses Thema bewegt deutet an, dass es eigentlich um anderes geht. Eine doppelte Mutter-Kind-Beziehung beschreibt Stever, der auf dem Roman „Fürsorge“ von Anke Stelling basiert. Und dieser Begriff, die „Fürsorge“, führt zum inhaltlichen Kern. Die Fürsorgepflicht gegenüber ihrem Kind hat Nadja einst zurückgewiesen, hat sich um ihre Karriere gekümmert. Warum sie dies tat, ob sie es bereut, welche emotionalen Spuren es hinterlassen hat, bleibt allerdings ebenso offen, wie das Verhältnis von Nadja zu ihrer Mutter. Mal distanziert, mal nah wirkt es, aber Stever verzichtet weitestgehend auf Dialoge, scheint ganz bewusst jede Form der Psychologisierung vermeiden zu wollen und kommt ihren Figuren nur visuell nah.

Erzählerisch lässt „Grand Jeté“ viel, vielleicht auch zu viel im Vagen, was gerade angesichts der nun ja doch etwas speziellen Mutter-Sohn-Beziehung zu seltsamen Lücken führt. Wenn da etwa Nadjas Mutter ihre Tochter tröstet, so als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass eine Mutter mit ihrem minderjährigen Sohn Sex hat, stellt sich die Frage, warum keine der Figuren das Offensichtliche anspricht.

Überzeugend mutet „Grand Jeté“ vor allem visuell an, als dichtes, sehr intimes Kammerspiel. Meist ist die Kamera ganz nah an den Figuren dran, an den oft nackten Körpern, gespannten, verspannten Rücken, Sehnen und Gliedern. Kontrastierend stehen Einstellungen, in denen der Blick der Kamera eine leichte Vogelperspektive einnimmt, die Figuren in den engen Räumen der Wohnung zeigt wie Tiere im Käfig. In diesen Momenten werden die gespannten Familienverhältnisse spürbar deutlich, und doch werfen solche Szenen mehr Fragen auf, deren Antworten Stever verweigert. Doch statt Spannung und Ambivalenz hinterlassen diese Leerstellen dieses Mal vor allem Ratlosigkeit.

 

Michael Meyns