My Private Desert

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Eine Love Story und gleichzeitig die Bestandsaufnahme eines zerrissenen Landes: Daniel geht auf die Suche nach seiner Internet-Liebe Sara und reist dafür mehr als 3.000 Kilometer durch Brasilien – vom reichen, konservativen Süden in den armen Norden. Doch in diesem Film ist nicht der Weg das Ziel, also kein Road Movie, sondern eine inhaltlich und dramaturgisch interessant gestaltete Liebesgeschichte mit mehr Melancholie als Leichtigkeit. Dafür gab’s in Venedig den Preis für den besten Film in der Sektion Giornate degli Autori (Venice Days) und eine Oscar-Nominierung.

Auszeichnungen/Preise
2021 Venedig – Giornate degli Autori – bester Film

Webseite: www.gmfilms.de

Deserto Particular
Brasilien 2021
Regie: Aly Muritiba
Drehbuch: Aly Muritiba, Henrique dos Santos
Darsteller: Antonio Saboia, Pedro Fasanaro, Thomas Aquino, Laila Garin, Zezita De Matos,
Sandro Guerra, Luthero De Almeida, Otávio Linhares, Cynthia Senek
Kamera: Luis Armando Arteaga

Länge: 120 Minuten
Verleih: GMfilms
Kinostart: 17. November 2022

FILMKRITIK:

Eigentlich ist Daniel von Beruf Polizist, allerdings befindet er sich gerade in einer Zwangspause, wobei unklar bleibt, ob er entlassen oder suspendiert wurde. Es gab da ein Vorkommnis … offenbar hat Daniel einen jungen Kollegen verletzt, und zwar ziemlich schwer, denn der Kollege liegt noch im Krankenhaus. Daniel selbst spricht von einem Unfall, doch es droht ihm nicht nur eine psychologische Untersuchung, sondern sogar ein Prozess. Zurzeit nimmt Daniel jeden Job an, er arbeitet auch als Security in Clubs. Sein Privatleben wird vor allem davon bestimmt, dass er seinen dementen Vater betreut. Dabei hilft ihm gelegentlich seine Schwester Deb, die ihn davon überzeugen möchte, dass ihr Vater ins Heim gehört. Daniels einzige Abwechslung ist momentan der Kontakt zu seiner Internet-Freundin Sara. Per Telefon, WhatsApp und SMS können sie miteinander kommunizieren – der persönliche Kontakt fehlt leider bis jetzt, denn sie lebt im Norden Brasiliens und Daniel 3.000 Kilometer von ihr entfernt im Süden. Eines Tages meldet sich Sara nicht mehr, sie ruft nicht zurück, sie antwortet nicht auf Daniels Nachrichten, und er macht sich Sorgen. Kurzerhand packt er seine Sachen, überlässt den Vater der Pflege seiner Schwester und fährt im Pick up Richtung Norden. Dort wartet auf ihn eine ganz andere Atmosphäre als im wohlhabenden, kühlen Süden, und auf der Suche nach Sara lernt er ein paar interessante Menschen kennen, die sein Leben verändern könnten.

Aly Muritibas Film erzählt nicht nur von der Suche nach der großen Liebe, sondern auch von Identität und der Auseinandersetzung mit Rollenmustern – Männlichkeit, Weiblichkeit … was bedeutet das für eine Beziehung? Daniel zeigt sich zu Beginn als sportlicher, kerniger, vielleicht sogar übertrieben zupackender Kerl. Er joggt, bis ihm die Luft ausgeht. Dieser Mann lacht äußerst selten, er wirkt beinahe wie ein Stoiker, der mit unbeweglicher Miene auf die Welt blickt; passend zum Süden Brasiliens und zu der kalten und unpersönlichen Welt, in der er lebt und aufgewachsen ist. Der Weg in den Norden und der Aufenthalt dort macht etwas mit Daniel, und das hat nicht nur mit dem wärmeren Wetter und der beinahe immer leicht krawalligen Umgebung zu tun. Oben im Norden geht es laut, bunt und lustig zu, die Menschen sind gesprächiger, und es scheint, als ob der introvertierte Daniel das erst nach und nach realisiert, eigentlich auch eher beiläufig, denn sein Ziel ist es ja, Sara zu finden, die sich möglicherweise vor ihm versteckt. Hin- und hergerissen von Schuldgefühlen – hat er vielleicht was Falsches gesagt oder geschrieben? – wird Daniels Suche immer verzweifelter, bis er schließlich die ganze Stadt mit Saras Foto pflastert: eine junge Frau, deutlich jünger als Daniel, mit einem gewinnenden Lächeln. Seine große Liebe …

Aly Muritiba schafft in seinem Film eine merkwürdig ambivalente Stimmung, oft leicht melancholisch, die sehr viel mit Daniel und seinem Verhältnis zu Sara und generell zu Frauen zu tun hat, aber auch mit der Situation in Brasilien, die in der Bolsonaro-Ära geprägt ist von ausgeprägten gesellschaftlichen Dissonanzen. Davon betroffen sind die Schwächeren: Schwarze, Indigene, Frauen, alte Menschen und die LGBTQ+-Gemeinde. Die politischen Verwerfungen haben ihre Spuren hinterlassen, und Muritiba stellt der Kälte des Südens die provokative Sinnlichkeit des Nordens entgegen, die viel mit Liebe und Zärtlichkeit zu tun hat – für den taffen Daniel ist das ein Lernprozess. Zusätzlich sorgt Muritiba mit einer ausgeklügelten Dramaturgie für mehrere Stimmungswechsel mitten im Film. Daniels Vorgeschichte wird nur peu à peu und in winzigen Puzzlestücken erzählt, erst seine Abreise in den Norden markiert den eigentlichen Beginn des Films. Ein zusätzlicher Perspektivwechsel macht dann Daniel zur Nebenfigur, deren Situation für die Handlung nicht mehr so wichtig ist. Im Vordergrund stehen die Begegnungen zwischen einzelnen Personen und vielleicht auch zwischen Daniel und Sara?

 

Gaby Sikorski