2020 wurde sie mit 80 Jahren zur ältesten Gewinnerin des Bachmann-Preises: Helga Schubert, die nun von Jörg Herrmann porträtiert wurde. „Sonntagskind“ heißt der Dokumentarfilm, der mit Archivaufnahmen und ausführlichen Interviews mit Schubert und vielen Wegbegleiterin ein langes, abwechslungsreiches Leben nachzeichnet.
Deutschland 2023
Regie: Jörg Herrmann
Dokumentarfilm
Länge: 100 Minuten
Verleih: déjà-vu Film
Kinostart: 11. Januar 2024
FILMKRITIK:
Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie als Helga Helm geboren, 1940 in Berlin, ihren Vater lernte sie nie kennen, er starb im Osten, eine Handgranate zerriss ihn. Sie studierte Psychologie, heirate in erster Ehe den Maler Rolf Schubert, bekam ein Kind, die Ehe scheiterte. Durch eine Bekanntschaft mit der Schriftstellerin Sarah Kirsch entstand ein Kontakt zum Aufbau-Verlag, eine erste Veröffentlichung erfolgte 1975.
Seitdem ist Helga Schubert Autorin, fast von Anfang an wurde sie wie viele andere Schriftsteller in der DDR von der Stasi observiert, wegen des Verdachts der „staatsgefährdenden Hetze und Diversion“, wie es hieß. Zur Zeit der Wende war sie am Runden Tisch und der friedlichen Revolution beteiligt, veröffentlichte 1990 eines ihrer bekanntestes Bücher: „Judasfrauen. Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich.“ Auch Drehbücher schrieb sie, doch seit Anfang des neuen Jahrtausends verschoben sich die Schwerpunkte in Helga Schuberts Leben: Zwischen Schwerin und Weimar lebt sie mit ihrem 13 Jahre älteren Mann, dem ehemaligen Psychologie-Professor Johannes Helm, der seit längerem pflegebedürftig ist. Erst durch eine zufällige Begegnung mit der Literaturkritikerin Insa Wilke wurde sie 2020 zum ersten Mal zum berühmten Ingeborg-Bachmann-Literaturpreis in Klagenfurt eingeladen, mit 80 Jahren als älteste Teilnehmerin aller Zeiten. Und für ihren Text „Vom Aufstehen“ gewann Schubert den Wettbewerb, ein Jahr später wurde der Text veröffentlicht und 100.000 Mal verkauft. Eine späte Renaissance für eine Schriftstellern, die 20 Jahre nichts veröffentlicht hatte und nun noch einmal auf Tour ging: Vorträge, Lesungen, Empfänge. Acht Monate begleitete sie der aus Rostock stammende Dokumentarfilmregisseur Jörg Herrmann auf Reisen, besuchte sie aber auch zu Hause, wo Schubert ihren inzwischen 95jährigen Mann pflegt.
Archivaufnahmen und Gespräche mit Wegbegleitern ergänzen das ruhige Porträt einer enorm agilen, wachen Frau, die gerne und ausführlich über ihr bewegtes Leben erzählt. Eine Flucht aus der DDR kam für Helga Schubert nie in Frage, trotz vieler Möglichkeiten während Lesereisen in den Westen. Zu sehr hätte sie ihren Wohnort in Mecklenburg-Vorpommern, ihre graue Heimatstadt Berlin, Freunde und Familie vermisst. Doch im Gegensatz zu vielen anderen wollte sie die DDR nicht verändern, nicht reformieren, es war ihre Heimat, nicht mehr und nicht weniger.
Ende der 80er Jahre, nachdem der vom DDR-Regimme verhasste Marcel-Reich Ranicki nicht mehr dem Bachmann-Preis vorstand, konnte Helga Schubert Jurorin werden, in den letzten Jahren der DDR. Dass sie diesen wichtigen deutschsprachigen Literaturpreis viele Jahre später doch noch gewinnen würde, mag man als ironische Pointe einer langen literarischen Karriere verstehen, der Jörg Herrmann mit „Sonntagskind – Die Schriftstellerin Helga Schubert“ ein sehenswertes, vielschichtiges Porträt widmet.
Michael Meyns